In einer Gesellschaft, in der es als selbstverständlich gilt, lesen und schreiben zu können, sind Hürden vorprogrammiert. Betroffene müssen Wege finden, um sich in der durch Schrift und Vorschrift geprägten Welt zurechtzufinden – ob beim Einkauf, bei Bankgeschäften, beim Entziffern von Straßenschildern, Verträgen oder Fahrplänen, beim Lesen von Speisekarten oder in der Arbeit. Wir sprachen mit Lisa Gadenstätter, die die heutige Dok.1-Ausgabe "Leben ohne Lesen und Schreiben“ gestaltet hat (ORF 1, 20.15 Uhr).

Was haben Sie beim Erarbeiten der Dok.1-Ausgabe „Leben ohne Lesen und Schreiben“ gelernt?
LISA GADENSTÄTTER: Ich habe in dieser Dok.1 sehr starke Persönlichkeiten kennengelernt, die es mir erlaubt haben, in ihren Alltag ohne Lesen und Schreiben einzutauchen. Das ist nicht selbstverständlich, denn dieses Thema ist mit sehr viel Scham verbunden und Betroffene bleiben meist im Hintergrund. Ich durfte sehen, wie diese Menschen ihr Leben meistern, und war tief beeindruckt. Gelernt habe ich, dass wir mehr Verständnis aufbringen müssen für Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Dass es durchaus möglich ist, im Erwachsenenalter noch Lesen und Schreiben zu lernen. Und dass diese Menschen ganz andere Fähigkeiten entwickeln, die uns Lesenden vielleicht sogar verwehrt bleiben.

Inwiefern?
Sie haben zum Beispiel ein phänomenales Gedächtnis, weil sich ihr Leben sehr stark an Bildern orientiert.

Melanie bringt Livia das Alphabet in Anwesenheit von Lisa Gadenstätter im ISOP in Graz bei
Melanie bringt Livia das Alphabet in Anwesenheit von Lisa Gadenstätter im ISOP in Graz bei © ORF

Die Zahl erschreckt: Fast eine Million Menschen in Österreich verfügt über eine nur rudimentäre Lese- und Schreibkompetenz. Kann man denn eine Hauptursache nennen?
Es ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Ursachen. Zum einen entsteht das Problem in Familien, in denen Kinder nicht gut genug gefördert werden können. Zum anderen spielt die Schule eine große Rolle. Mir war nicht bewusst, dass 600.000 Menschen in Österreich, die nicht gut lesen und schreiben können, Deutsch als Erstsprache haben. Das heißt, diese Menschen sind durch unser Schulsystem gegangen, wurden aber ohne Grundkompetenzen ins Leben entlassen.

Wurde der Umstand durch Zeichen/Kürzel im SMS-Modus womöglich noch verstärkt?
Diese Frage habe ich auch Sonja Muckenhuber gestellt. Sie leitet ein Institut für Bildungsberatung. Der SMS-Modus verändert zwar unser Schreib- und Leseverhalten, hat aber nichts damit zu tun, dass es Menschen gibt, die schlecht lesen oder schreiben können.

Entstand diese Dok.1 nur in Wien oder wurde landesweit gedreht?
Weil das Thema mit einer großen Scham versehen ist, war es nicht so leicht, Betroffene zu finden. Wir haben dann schließlich in Kärnten, Niederösterreich, Wien und der Steiermark gedreht.

Wenn Corona es wieder zulässt: Bevorzugen Sie selbst ein Urlaubsland, wo Sie jedes Schild lesen bzw. verstehen können?
Ich lasse mich gerne auf fremde Welten ein. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich in Japan etwa vor einem Verkehrsschild ähnlich lange stehen müsste wie ein Analphabet vor einem Verkehrsschild in Wien. Ich wollte für die Zusehenden in dieser Doku greifbar machen, wie es sich im Alltag anfühlt, wenn man schlecht lesen und schreiben kann, wie Analphabeten die Welt sehen. Meine Regisseurin Nina Dallos hat mir dann ein Bild eines Kaffeeautomaten mit klingonischer Schrift zur Verfügung gestellt und mich aufgefordert, einen Kaffee zu kaufen.


Ist der von Ihnen geleitete Talk.1, heute um 22.25 Uhr in ORF 1, nach den Anfangsschwierigkeiten auf dem richtigen Weg? Als eine Art Club 2 für Junge, zuletzt mit Bill Kaulitz?
Wir haben das Format noch stärker an die Bedürfnisse des Publikums angepasst und setzen auf Persönlichkeiten und Themen der Woche. Wir geben den Studiogästen in Einzelgesprächen mehr Raum und können tiefer in ihre Geschichten eintauchen. Das funktioniert sehr gut.

Ihr Wunsch für 2022?
Dass die Unbeschwertheit des Lebens zurückkehrt.