Sie möge auf dem Heimweg von einer Horde wildgewordener Afrikaner vergewaltigt oder gleich umgebracht werden – dieser unfreundliche Wunsch erreichte Corinna Milborn per Facebook. Sie reagierte unkonventionell und schrieb zurück. Der Mann reagierte verblüfft, sogar verlegen. Und das war ihre erste Erfahrung: „Menschen, die andere im Internet beschimpfen, rechnen nicht damit, dass eine echte Person antwortet …“ Es ging um eine angebliche Vergewaltigung „mitten in Wien“ und der Wutbürger hatte der Journalistin vorgeworfen, die Medien würden sich an eine Nachrichtensperre der Polizei halten und die sei aus „Political Correctness“ verhängt worden, weil es sich um einen schwarzen Täter handle. Beides stimmte nicht.

Für Corinna Milborn waren die weiteren Erfahrungen auf der Suche nach den Fakten, nach dem Entstehen von Fake-News und dem Ergründen von Ursachen für manche wütende Reaktionen der Anlass, ein Buch zu schreiben. Den mit dem Co-Autor Markus Breitenecker verfassten Band „Change the Game“, erschienen im Verlag Brandstätter,präsentierte sie dieser Tage im Grazer Steiermarkhof – vor 200 interessierten und diskussionsfreudigen Zuhörern. Die ebenso eloquente wie kompetente Journalistin, TV-Moderatorin (Puls4) und Politikwissenschafterin erläutert verständlich und mit vielen Beispielen das Wesen, die Struktur und das Funktionieren von „sozialen Medien“, wie Amazon, Facebook , Google oder YouTube.

Extreme werden belohnt

Die Internet-Giganten haben als erfindungsreiche Datensammler eine neue Kategorie der Macht geschaffen – mit neuen Möglichkeiten und mit neuen Gefahren. Die Möglichkeiten einer Öffnung des kommunikativen Raumes für alle können sich, wie z.B.. der „arabische Frühling“ bewies, durchaus positiv auswirken. Die Gefahren zeigen sich aber auch schon recht deutlich: Mit Hass, Lügen und Desinformation lassen sich sehr gut Geschäfte machen. Und der Hass gedeiht besonders im Schatten der Anonymität. Ein weiterer Gefahrenfaktor ist die Tatsache, dass Parallelwelten aufgebaut werden: Die Förderung von „Filterblasen“ schränkt den öffentlichen Diskurs ein, weil es bequemer ist, sich die eigene Meinung mit Gleichgesinnten gegenseitig zu bestätigen – anstatt sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzen.

Und eine dritte nicht unwesentliche Gefahrenzone ist eine besondere Gesetzmäßigkeit dieser Art von Medien: Extreme werden belohnt. Emotionale Postings bekommen mehr Likes als differenzierte, weil die Algorithmen reaktionsreichere Postings automatisch nach oben reihen. Der User sieht also mehr Postings, die wütend machen und ist bemüht, seine eigenen Äußerungen auch möglichst effektvoll zu formulieren, um mehr Reaktionen zu bekommen.

Corinna Milborn weist in diesem Zusammenhang auch auf den Unterschied im politischen Umgangston zwischen Presseaussendungen und Facebook-Postings von Parteien hin. Eingehend wird in „Change the Game“ auch die Ideologie der Silicon Valley-Eliten erläutert, die den Kapitalismus vor der Demokratie retten wollen, weil diese für sie einfach zu langsam ist. Deshalb gehöre es zu ihrer Strategie „an Staat und Demokratie vorbeizupreschen“. Und hier setzt das Autoren-Duo auch an, wenn es tatsächlich um den im Titel versprochenen Wandel geht: Um in der Auseinandersetzung zwischen den USA und China auf dem digitalen Sektor überhaupt noch im Spiel zu bleiben, brauche Europa eine gemeinsame digitale Plattform – und die soll durch einen Zusammenschluss aller öffentlich-rechtlichen Sender in den europäischen Ländern geschaffen werden. Zudem muss Europa als Einheit selbstbewusster als bisher gegen die neue Art von Medien auftreten, die sich zwar in scheinbar bescheidener Großmütigkeit nur als eine offene Debatten-oder Informationsplattform anbieten, aber in Wahrheit doch Inhalte gestalten – und daher nach europäischen Rechtsbegriffen Medienunternehmen sind. Als solche haben sie, wie die lokalen Medien, auch die Verantwortung für ihre Inhalte. Auch wenn das ihren Geschäftsinteressen widerspricht.

Corinna Milborn und Markus Breitenecker regen mit einer Art Anspruchskatalog auch zu einer Diskussion über einen neuen öffentlich-rechtlichen Auftrag für das 21. Jahrhundert an. Gleich am Beginn dieses Kapitels wird freilich ein alter unverwüstlicher Kämpfer für das öffentlich-rechtliche Medium aus dem 20. Jahrhundert zitiert, der leider schon tot ist - Gerd Bacher: „Guter Journalismus unterscheidet: zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig, Sinn und Unsinn.“

Corinna Milborn, Markus Breitenecker: Change the Game. Wie wir uns das Netz von Facebook und Google zurückerobern. Brandstätter Verlag, 2018. 25 Euro.
Corinna Milborn, Markus Breitenecker: Change the Game. Wie wir uns das Netz von Facebook und Google zurückerobern. Brandstätter Verlag, 2018. 25 Euro. © KK

Aber auch die 12 Begriffspaare, mit denen Qualität und gesellschaftspolitische Funktion von Medien („Public-Value“) definiert werden, sind nicht neu. Nur drei Beispiele: „Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit“, „Verantwortung und Sorgfalt“, „Ausgewogenheit und Objektivität“… Unter anderem würden nach dieser Definition des Public- Value bisherige Selbstverständlichkeiten wie Quote oder Reichweite wegfallen. In diesem Kapitel des Buches geht es ums Geld durch staatliche Medienförderung und hier ist sehr deutlich die Handschrift des Co-Autors Markus Breitenecker spürbar. Der Medienmanager ist Gründer des Privatsenders Puls 4 und Chef der Sendergruppe ProSiebenSat. 1 Puls4.

Konzentration auf Qualität

Und gefordert wird nicht mehr und nicht weniger als ein rechtlicher Paradigmenwechsel. Konkret würde das bedeuten, dass vom Staat nur Programme gefördert werden, die den Ansprüchen der Begriffsdefinition „Qualität im Sinne des Gemeinwohls“ entsprechen – und zwar unabhängig davon, ob dieses Programm vom ORF oder von einem Privatsender angeboten wird. Damit soll das „gegenseitige Überbieten der Kommerzware auf Kosten von Gebührengeldern“ beendet werden. Der angekündigte Effekt klingt tatsächlich verlockend: Öffentlich rechtliche Sender könnten sich auf höchste Qualität konzentrieren und die privaten hätten den Anreiz, ihrerseits mehr Wert auf Qualitätsprodukte zu legen. Der Aufschrei der ORF-Verantwortlichen auf diese „Beschränkung“ ist vorprogrammiert. Aber wie auch immer: „Change the Game“ ist ein wichtiger Denkanstoß: für die kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Medien, aber auch für den allzeit aktuellen Diskurs über den öffentlich rechtlichen Auftrag des ORF.