Fast erinnert die strukturierte Flut an den Ausschnitt eines Regenbogens: alles so schön bunt hier! Der Farbrausch setzt sich unter der Kuppel des Grazer Kunsthauses munter fort. Es ist wie eine Einladung, der man unbedarft folgt, bis man ganz nahe dran ist und erkennt, wovor man hier eigentlich steht: Hunderte T-Shirts, fein säuberlich in Streifen geschnitten, verknotet, aneinandergereiht, zu einem gigantischen Webstuhl arrangiert. Natürlich ist das auf den ersten Blick eine Fast-Fashion-Kritik. Die Flut an Wegwerfkleidung, die sich über den Ausstellungsraum ergießt und eindrucksvoll als ästhetisch-wuchtiger, künstlicher Monolith im Ausstellungsraum aufragt.

Schicht für Schicht, das entspricht dem künstlerischen Konzept von Azra Akšamija, die immer auch mehrere Interpretationsebenen verwebt und sie für diese Ausstellung unter einem Dach vereint: „Sanctuary“, Heiligtum, aber auch Schutzort, stellt immer wieder Fragen: Was ist schützenswert? Was ist uns heilig? Wenn Schutzräume schützen, wen grenzen sie automatisch auch aus?

Ein blauer Schutzhelm aus Muranoglas, Teil der Arbeit „Silk Road Works“, die 2021 bei der Architekturbiennale in Venedig zu sehen war, thematisiert die vielen Ausprägungen von Schutz: Was stellen wir unter Schutz und wer bestimmt das? Sie beleuchtet aber auch die Aufgabe großer Institutionen, wie etwa die Uno, bei deren Auftrag – der Schutz von Menschen, aber auch von Kulturerbe – oft eine große Kluft zwischen Theorie und Praxis herrscht. Letzteres ist für die Künstlerin und Architektin, die seit 2011 Professorin am renommierten Massachusetts Institute of Technology ist, ein wichtiger Teil ihrer künstlerischen Praxis: „Seit 2016 leite ich das Future Heritage Lab und arbeite an der Schnittstelle zwischen Kunst, Design und Kulturerbe. Da entwickle ich mit künstlerischen Methoden, wie man Kulturerbe anders denken kann, aber auch, wie man in den sozialen Bereichen etwas beitragen kann. Nicht zu vergessen: der Nachhaltigkeitsgedanke“, erzählt die Künstlerin, die 1992 mit ihren Eltern vor dem Krieg in Bosnien fliehen musste und nach Österreich kam.

„Es geht auch darum, Brücken zu schlagen, was Azra Akšamija vor allem auch über das Material und Recycling macht“, erklärt Katrin Bucher Trantow, die mit Alexandra Trost die Ausstellung kuratiert hat, einen Ansatz der Künstlerin. Fünf Jahre hat sie immer wieder in einem Camp mit syrischen Flüchtlingen in Jordanien gearbeitet. Dort dürfen die Geflüchteten maximal in der Textilindustrie arbeiten. Die Folge: „In diesem humanitären System werden die Geflüchteten voll ausgebeutet, aber wir haben das System gehackt“, so Akšamija, die Hilfe zur Selbsthilfe initiierte: Inspiriert von einer traditionellen Applikationstechnik aus dem Nahen Osten wurden aus Schockdecken, Flüchtlingswolldecken und aus der Luft abgeworfener Kleidung eine individualisierte Form der herkömmlichen, weißen Hilfszelte entwickelt. Eines dieser Zelte ist in der Ausstellung zu sehen, das gesammelte Wissen ist im Camp verblieben. Eine zentrale Erkenntnis hat die Künstlerin für sich mitgenommen: „Zum Menschsein gehört nicht nur ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, sondern auch Kunst und Kultur.“

Azra Akšamija. Sanctuary, bis 6. Oktober. Kunsthaus Graz, Lendkai 1, 8020 Graz. museum-joanneum.at.