"Wir wollen neue Welten von Zeitgenossenschaft entdecken", kündigte Marin Alsop bei einer Pressekonferenz am Mittwoch (7. November) an. Das dürfte bei der Amerikanerin nicht nur eine altbekannte Phrase sein. Die Bernstein-Schülerin, die mit dem Baltimore Symphony Orchestra die erste Frau an der Spitze eines großen US-Klangkörpers wurde, ihren Vertrag in Sao Paolo noch bis Oktober 2019 erfüllen wird und neben zahlreichen anderen Projekten ein Stipendienprogramm für junge Dirigentinnen ins Leben gerufen hat, bekennt sich nicht nur zur zeitgenössischen Musik in all ihrer Breite, sondern auch zur Inklusion breiter Publikumsschichten. Gerade in der europäischen Tradition ist das durchaus ein Spagat, wie Alsop im APA-Gespräch zugibt. "Es gibt da einen großen Unterschied zwischen der amerikanischen und der europäischen Zugangsweise zu zeitgenössischer Musik: Hier in Europa wird eine Musik, die für viele Menschen zugänglich ist, oftmals gering geschätzt."

Tatsächlich wird populäre zeitgenössische Klassik, wie sie in den USA gang und gäbe ist, von intellektuellen Apologeten der Neuen Musik in der alten Welt oftmals nicht für ausreichend anspruchsvoll gehalten - das wäre eines von vielen Klischees, mit denen Alsop aufräumen könnte. 25 Jahre lang leitete sie das renommierte Cabrillo Festival für zeitgenössische Musik in Kalifornien, einige ihrer bevorzugten US-Komponisten möchte sie auch nach Wien mitbringen. Wenngleich sie betont: "Ich freue mich sehr darauf, mit dem RSO die Herausforderung anzunehmen, auch die Neue Musik der europäischen Tradition einem breiten Publikum zugänglich zu machen."

Das RSO wird unter Alsops Ägide die Zusammenarbeit mit Superar intensivieren, wo Kindern aus benachteiligten Verhältnissen eine kostenfreie musikalische Ausbildung ermöglicht wird - bis hin zu einem gemeinsamen Konzert im Beethoven-Jahr 2020. In Baltimore, einer von Gewalt geplagten Stadt an der amerikanischen Ostküste, hat Alsop bereits vor zehn Jahren die ähnlich orientierten OrchKids gegründet. "Eine der Überzeugungen, die ich von Leonard Bernstein übernommen habe, ist, dass jedes Kind den gleichen Zugang zu Musik verdient", sagt sie. Das müsse auch die Antwort von Kulturschaffenden auf die zunehmende politische Spaltung der amerikanischen Gesellschaft sein. Die Kongresswahlen am gestrigen Dienstag hätten "ein wenig Aufmunterung" gebracht, so Alsop gegenüber der APA. "Aber nicht so viel, wie gehofft. Mich überrascht überhaupt nichts mehr."

Für sie selbst habe die Musik immer einen "sicheren Hafen" bedeutet - diese Möglichkeit wolle sie Kindern weitergeben. "Die Kinder kommen jeden Tag für drei Stunden zum Musizieren und dürfen ihre Emotionen in dieser Weise ausdrücken. Das hat eine große verändernde Kraft." Gleichzeitig betont sie: "Ich lerne bei diesem Programm mehr als sie." Auch junge Dirigentinnen "verschiedener Herkunft" fördere sie gezielt. "Frauen erhalten in diesem sehr konservativen Business oftmals nur eine einzige Chance. Das ist beim Dirigieren aber schwierig, weil man es ja allein nicht üben kann. Ich versuche, Gelegenheit zum Scheitern zu bieten", sagt sie. Denn dass es immer noch so wenige Frauen am Dirigentenpult gibt, sieht sie als Teil eines größeren Bildes. "Warum gibt es wenige Präsidentinnen? Das sind einfach Positionen, die eine lange Vorlaufzeit brauchen. Das dauert. Und es braucht Vorbilder." Am Dirigentenberuf selbst gebe es nämlich nichts, was ihn für Frauen speziell schwierig mache. "Der Stab wiegt etwa 25 Gramm. Das ist zu schaffen."

Mit Alsop nicht nur die erste Frau, sondern auch eine renommierte Dirigentenpersönlichkeit mit ansehnlicher internationaler Laufbahn vorweisen zu können, macht auch dem ORF Freude. "Wir sind sehr stolz darauf", so Generaldirektor Alexander Wrabetz bei der Präsentation. Das Orchester sei "eine wichtige Säule unseres Kulturauftrages" und habe sich in den vergangenen Jahren unter Cornelius Meister "sehr gut entwickelt". Radiodirektorin Monika Eigensperger freut sich auf die "Erweiterung des Repertoires" und die "neuen Impulse", RSO-Intendant Christoph Becher betonte, dass Alsop bei ihrem ersten Einsatz am RSO-Pult 2014 den Musikern "in bester Erinnerung" geblieben sei. Derzeit wird an einer Filmaufnahme gearbeitet - und es sei "einfach wunderbar". Alsops Vertrag, der mit Oktober 2019 beginnt, ist zunächst auf drei Jahre abgeschlossen, mit unmittelbarerer Option auf Verlängerung auf zunächst vier Jahre.