Dunkle, krause Locken, sanfter Blick, schmächtige Statur: Der 13-jährige Ahmed sieht auf den ersten Blick nicht so aus, als könnte er einer Fliege etwas zuleide tun. Er ist ein gewissenhafter Schüler. Und wenn sich die Lehrerin im Unterricht über ihn beugt, um ein Rechenbeispiel zu besprechen, hört er ihr zu. Als er später das Klassenzimmer verlässt, schüttelt er ihr nicht die Hand. Stattdessen sagt er: „Ich bin kein Kind mehr.“ Nachsatz: „Ein echter Muslim gibt Frauen nicht die Hand.“ Diesen Satz hat ihm sein Imam (Othmane Moumen) eingebläut. Er wird zum Ersatzvater.


Das belgische Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne dokumentiert in seinem im Vorjahr in Cannes mit dem Regiepreis gekrönten Film „Le jeune Ahmed“ („Der junge Ahmed“) die Geschichte einer Radikalisierung mitten in einer liberalen Familie in einer belgischen Kleinstadt. Es ist ein bedrückendes, heftig kritisiertes und politisch unkorrektes Drama, das nicht wertet, sondern die Entwicklung des Fanatismus nüchtern begleitet und auf jegliche Innensicht in die Gedankenwelt des Burschen verzichtet. Ebenso wie auf eine Vorgeschichte.


Die Kamera bleibt ganz nah an Ahmed und beobachtet, wie das Radikale in ihm wächst. Wie er seine Schwester für ihre Outfits kritisiert und seine alleinerziehende Mutter dafür, dass sie Alkohol trinkt. Wir erfahren, wodurch sich Ahmed unrein fühlt. Die Vorstellung einer Religion mutiert zu seinem Schutzschild und seinem Panzer. Die zwanghafte Reinigung verkommt zur vollkommenen Verschließung. Als seine Lehrerin, sie hat einen Juden zum Freund, ankündigt, künftig auch Arabisch-Stunden zu geben, eskaliert die Situation.

Denn der Imam findet, es ist nur erlaubt, die Sprache mittels des Korans zu lernen – und nicht mit populären Songtexten. „Sie ist eine Abtrünnige. Das ist Blasphemie.“ Bis Ahmed ein Messer in Küchenrolle einpackt, es sich in den Socken steckt, bei der Lehrerin vor der Tür steht und es zückt, ist es nicht mehr weit.


Idir Ben Addi verkörpert den Burschen, der sich dem Jihad anschließt, auf beängstigende Weise. Manchmal, wenn er über Treppen steigt, verliert ihn die Kamera, wie er sich scheinbar selbst längst verloren hat. Es sind 80 beklemmende Minuten, die aber auch die Ahnungslosigkeit der Sozialarbeiter, Betreuer und Lehrer offenlegen.