Das Leben von Powerfrau Lola gerät ins Wanken, als ihre schizoide Schwester Conny nach einem Suizidversuch in die Psychiatrie kommt. Die toughe Unternehmensberaterin ist zwischen der Sorge um Conny und ihrem Willen, im Job weiter zu funktionieren, hin und hergerissen: Das Psychogramm "Der Boden unter den Füßen" von Marie Kreutzer feierte am Samstag seine Weltpremiere im Berlinale-Wettbewerb.

Marie Kreutzer hat dabei mit ihrem neuen Film gleichsam die Antithese zu ihrem vorherigen Werk "Was hat uns bloß so ruiniert?" geschaffen. Porträtierte die gebürtige Grazerin 2016 noch mit flockigem Ton eine ganze Gruppe von Jungeltern, steht bei "Der Boden unter den Füßen" nun die Einzelfigur Lola (Valerie Pachner) im Fokus. Die Endzwanzigerin funktioniert. Und das bestens. Ihr aktueller Auftrag als Unternehmensberaterin in Rostock scheint als Sprungbrett für den Traumjob in Australien ausgemacht. Für diesen steilen Karriereweg sind die dunklen Flecken im Privaten allerdings möglichst zu verbergen. Die Beziehung zu ihrer Teamleiterin Elise (Mavie Hörbiger) halten beide geheim, was sich in Down Under ändern soll.

Dass Lola jedoch eine ältere Schwester (Pia Hierzegger) hat, die auf eine lange Geschichte psychischer Krankheit zurückblickt, darf niemand wissen. Als Conny jedoch nach einem versuchten Selbstmord auf der Psychiatrie sitzt und ihre kleine Schwester als einzige Vertraute um Hilfe bittet, gerät Sand ins Räderwerk von Lolas Leben, das zwischen kurzen Hotelnächten, langen Arbeitstagen und Besuchen im Fitnessstudio besteht, um sich den Frust von der Seele zu strampeln.

Lola droht den vermeintlich sicheren Boden in diesem ebenso rastlosen wie klar strukturierten Gang der Dinge zu verlieren. Die Wirtschaftsprüferin scheitert an der Lebensprüfung. Sie kann Conny nicht retten, sie muss sich selbst retten. Diesen Zerfall eines Lebenskonzepts erzählt Kreutzer, die erneut auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete, nüchtern, pathosfrei.

"Toni Erdmanns" schwarzer Zwilling

Sie bleibt letztlich in der radikal subjektiven Perspektive ihrer Figur, vertraut oft schlicht auf Valerie Pachners ausdrucksstarkes Gesicht in der Großaufnahme (Kamera: Leena Koppe). Musik spielt in dieser Filmwelt praktisch keine Rolle - ebenso wenig der Humor. So erscheint "Der Boden unter den Füßen" gleichsam als schwarzer Zwilling des Kassenerfolgs "Toni Erdmann", in dem ebenfalls eine junge Unternehmensberaterin im Zentrum des Interesses steht, deren Vater sie jedoch mit Skurrilität aus ihrem emotionslosen Leben zu befreien sucht. Lola befreit niemand - auch hierfür ist sie selbst verantwortlich.

Die Drehbuchautorin Kreutzer scheint dabei streckenweise unentschlossen, ob sie mit ihrer Erzählung den Gang in den Psychothriller antreten will oder doch das Psychogramm dominieren lässt. Mancher Strang wird nicht fallengelassen, sondern im Fortschreiten der Geschichte schlicht vergessen - ob als bewusstes Offenhalten oder Schlampigkeit des Drehbuchs sei dahingestellt. Zugleich erscheint so manches an der Welt, in der sich Lola bewegt, eindimensional betrachtet.

Die Stärke des Films liegt stattdessen in kleinen Preziosen, Mikroszenen, die ohne viel Federlesen Situationen oder Charaktere einfangen, nicht auf lange Wortkaskaden setzen. So bleibt "Der Boden unter den Füßen" schwankend auch für die Zuschauer, denen offen gehalten wird, wo sie selbst Halt finden.

Kraftvolles Debüt

Kreutzer Film war aber nicht der einzige, der zum Auftakt dieser Berlinale schockierte. So heftig ging es selten zu, könnte man sogar sagen: Filme, die wehtun. In ihrem kraftvollen Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ erzählt Nora Fingscheidt von einem Problemkind, das massiv gegen seine Umgebung rebelliert. Wo immer die Neunjährige aufgenommen wird, fliegt sie wieder hinaus. Sie brüllt, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand - schon jetzt wird Kinderdarstellerin Helena Zengel für ihren furiosen Auftritt als Bären-Favoritin gehandelt.

Von Kindern als Opfer handelt „Gelobt sei Gott“ von François Ozon, der nach wahren Ereignissen den Missbrauchsfall durch katholische Priester in Lyon schildert. Fast dokumentarisch erzählt der Film, wie sich Erwachsene nach vielen Jahren dem Trauma stellen, das sie als Kinder erlebten. Nun will Alexandre, Vater von fünf Kindern, dass die Kirche den einstigen Täter zur Rechenschaft zieht, der noch immer in Amt und Würden steht. Doch an der Mauer des Schweigens ändert sich nichts. Schließlich erstatten die Opfer gemeinsam Anzeige. Dem Tribunal auf der Leinwand folgt in Kürze jenes der Wirklichkeit: Am 8. März soll von einem Lyoner Gericht das Urteil gegen Täter und Mitwisser gesprochen werden.

Eine authentische Horrorgeschichte erzählt auch Fatih Akin. Mit „Gegen die Wand“ bekam er vor 15 Jahren den Goldenen Bären. 2018 holte er mit „Aus dem Nichts“ den Golden Globe. Nun widmet er sich, nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, in „Der Goldene Handschuh“ dem Serienmörder Fritz Honka. Der ermordete im Hamburg der 70er-Jahre vier Frauen, zerstückelte die Leichen und versteckte sie in seiner Wohnung. Weil die Frauen keiner vermisste, fielen die Taten nicht auf.

Gleich zum Auftakt geht es heftig zur Sache. Jonas Dassler, mit massiver Maske zum Freak verunstaltet, zersägt die erste Leiche in der schäbigen Wohnung. Später wird er dort noch brutal andere Opfer umbringen - wegen der extremen Szenen beim Dreh wurde eigens eine Set-Psychologin zur Betreuung der Schauspieler um Dassler und die Grazer Mimin Grete Tiesel angeheuert.

Für Akin steht die Brutalität symbolisch. „Die meisten Männer begreifen nicht, was Gewalt an Frauen bedeutet. Männer brauchen eine Art Schocktherapie über das Visuelle, und ich wollte die Gewalt deshalb explizit zeigen, so bedrückend, wie sie ist. Der Film hat die größten Machos in meinem Bekanntenkreis völlig fertiggemacht“, berichtet der 45-jährige Filmemacher.

Eine Handvoll Zuschauer verließ die Pressevorstellung. Der Beifall blieb spärlich. Dafür war das Entsetzen über die Wucht des Gezeigten zu groß. Übernächste Woche kann man sich im Kino dieser Mutprobe mit Nachhaltigkeitseffekt stellen.