Auf der Wikipedia-Seite zu Ihnen steht: „Vorübergehend wollte er Priester werden, was er unter dem Einfluss des Rock ’n’ Roll jedoch verwarf.“ In Ihrer Doku sieht man Papst Franziskus, wie er Klartext spricht – zu Bischöfen, Kindern und verurteilten Mördern. Ist er so etwas wie eine letzte Punk-Bastion?
WIM WENDERS (lacht): „He rocks!“ würde ich darauf auf Englisch antworten. Vielleicht ist er wirklich der Letzte, der zu einer radikalen Veränderung in der Welt aufruft. Schon als ich erfuhr, dass der neue Papst sich den Namen Franziskus gegeben hatte, war ich beeindruckt. Das hatte sich noch keiner getraut! Mit dem Namensgeber, dem Heiligen Franz von Assisi, ist ein revolutionäres Programm verbunden. Er macht die Klimakatastrophe zu einem seiner wichtigsten Themen und prangert die immer größere werdende soziale Ungerechtigkeit an. Er geht auf den Islam zu und sein bester Freund ist ein Rabbi aus Buenos Aires.

Also doch eine Art Punk!
Es ist nicht von ungefähr, dass das Lied unter dem Abspann von der großen Frau der Punk-Bewegung kommt, von Patti Smith. Die ist ein großer Fan von Papst Franziskus. „These are the Words“ heißt das Lied, das sie geschrieben hat.

Ihnen wurde das Projekt angeboten. Was hat Sie daran gereizt?
Gereizt hat mich vor allem, dass der Papst ein Mann ist, der vorlebt, was er predigt. Zum Beispiel, dass man mit weniger auskommen kann. Also habe ich auch einen Film gemacht, der mit weniger auskommt. Der Papst ist auch nicht eitel, es geht ihm nicht um seine Person, im Gegenteil, er versucht immer klarzumachen, dass alle Menschen wirklich gleich sind. Ich habe zugesagt, als klar wurde, dass dies keine Auftragsproduktion des Vatikans werden sollte und auch nicht vom Vatikan finanziert werden würde. Das wäre ja a priori nicht glaubwürdig gewesen. Und darauf hätte ich mich auch nicht eingelassen.

Wie darf man sich denn die Kommunikation mit dem Vatikan vorstellen?
Eines Tages kam ein Brief in unser Büro in Berlin eingetrudelt. Meine Assistentin steckte den Kopf in den Schneideraum und sagte ganz aufgeregt: „Wim, du hast Post aus dem Vatikan!“ Die Idee kam von Dario Viganò, dem Präfekten der Kommunikationsabteilung. Da war ich schon neugierig. Im Gespräch mit ihm kam dann heraus, dass man mir Carte blanche geben würde, bei der Idee, dem Konzept, dem Schnitt. Man wolle sich aus all dem heraus halten, das sollte ein unabhängiger Film werden, wie meine anderen Dokumentarfilme auch, von der Finanzierung über die Produktion bis hin zum Verleih.

Sie lassen den Papst direkt in die Kamera sprechen. Welche Geschichte wollten Sie erzählen?
Die Idee war von der ersten Überlegung an: keinen Film über den Papst zu machen, sondern einen mit ihm. Auch meine Meinung über den Papst fand ich unwichtig, Meinungen sieht man in jedem Fernsehfeuilleton. Dieser Mann sollte so viel wie möglich selbst zu Wort kommen, mit allen Themen, wofür er steht. Nein, ich dachte: „Wenn ich schon die Chance und das Privileg habe, Auge in Auge mit Papst Franziskus sein zu können, dann möchte ich genau das mit dem Publikum teilen: diesen direkten Blickkontakt.“ Welche Geschichte ich erzählen will? Dieser Film ruft zu einer moralischen Revolution auf, nicht nur unter Christen, sondern allen Menschen guten Willens. Das ist in der Tat hochpolitisch, zumal viele unserer „World Leader“ keinerlei moralische Autorität darstellen.

Wim Wenders in Cannes, wo er seinen Film präsentierte
Wim Wenders in Cannes, wo er seinen Film präsentierte © APA/AFP/ALBERTO PIZZOLI

Sie haben ihn mehrere Male für Interviews getroffen. Wie liefen diese Begegnungen denn ab?
An vier Nachmittagen habe ich mit dem Papst gedreht, jeweils gut zwei Stunden lang. Er hat all meine 55 Fragen ausführlich beantwortet, auch zu brenzligen Themen wie Pädophilie in der Kirche. Er hat jeden einzelnen begrüßt, angefangen bei den Beleuchtern, und jeder hat sich mit seinem Namen vorgestellt. Franziskus hat mit jedem ein paar Worte gewechselt. Da war uns klar: Der macht keine Unterschiede zwischen den Menschen, auf eine Art und Weise, wie man das kaum noch kennt.

Welcher Moment mit ihm hat Sie am meisten beeindruckt?
Manchmal sieht man im Film, wie es in ihm drin rumort: Schwer erschüttert ist er zum Beispiel, als er von der Begegnung mit den Flüchtlingen auf Lesbos zurückkehrt. Geradezu finster schaut er da vor sich hin. Und auch bei einigen Begegnungen mit Politikern sieht er so aus, als sei ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Am meisten aus ihm herausgebrochen ist ein großer Zorn, als es um das Thema Pädophilie in der Kirche ging. Seine Forderung „Null Toleranz!“ kam aus tiefster Seele. Und man hat gespürt, wie er da gerne sehr viel mehr, viel schneller bewegen würde.

Wie halten Sie es persönlich mit der Religion? Besuchen Sie den Gottesdienst?
Die sogenannte „Gretchenfrage“. Ich bin ein gläubiger Mensch. Katholisch aufgewachsen, dann von der Kirche entfremdet, sogar ausgetreten, später über einen großen Umweg wieder zurückgekehrt, aber diesmal als Protestant. Natürlich hat mich die katholische Jugend geformt. Ich bin jetzt ein „ökumenischer Christ“ und gehe einmal in katholische, einmal in evangelische Kirchen. Mit den Institutionen habe ich nach wie vor meine Reibungspunkte. Existentiell für meinen Glauben ist, dass ich nicht alleine bin, sondern definiert bin durch all die Menschen, die um mich herum sind, und in denen für mich ein liebender Gott zu erkennen ist, der uns sieht. Als Christ gilt vor allem das Gebot, andere so zu lieben wie sich selbst.