Fürst Myschkin ist von seinem Sanatoriumsaufenthalt zurück auf den Weg in die russische Heimat. Im Zug freundet sich der an Epilepsie leidende Großerbe mit dem extravaganten Rogoschin an. Diese erste Szene von Dostojewskis Roman und in Weinbergs Oper wird beim Regisseur Vasily Barkhatov zum Zentrum des Geschehens. Immer wieder treibt es die Figuren zurück in den engen Waggon, der zur Metapher für deren Unbehausheit wird. Ständig unterwegs, und doch nicht wissend, wohin: Den Getriebenen ist die Bodenhaftung abhanden gekommen, sie sind freie Radikale im Labor des auf sich zurückgeworfenen, entwurzelten Menschen, aufgezehrt von Leidenschaften und Habsucht, fast alle mit kurzer Lunte ausgestattet.

Rogoschins Neigung zur Gewalt wendet sich auch gegen ihn selbst. Es ist ein Tanz auf der Borderline, wo die extremen Emotionen letztlich in Mord münden. Aber vielleicht verlässt der aufopferungsvolle Myschkin den durch die ewig gleiche Winterlandschaft fahrenden Waggon ja überhaupt nicht und man erhält durch den Zerrspiegel einer psychischen Erkrankung etwas vorgesetzt, was einer Mischung aus Erlebtem, Vorgestelltem, Erinnertem und Fantsiertem gleichkommt. Ein Eindruck, den auch Mieczyslaw Weinbergs komplexe Leitmotivik nahelegt.

Zur Zeit ihrer Entstehung, also in den 1980-ern, galt diese Sowjet-Musik im Westen als komplett überholt und fortschrittsfeindlich. Es ist eine späte Rache der Tonalität, dass Weinbergs Werke einen verspäteten Siegeszug antreten können. Der Komponist hat in seinem Spätwerk, das in seiner Originalgestalt erst 2013 posthum in Mannheim uraufgeführt werden konnte, eine letzte Meisterleistung vollbracht. Gemeinsam mit dem Librettisten Alexander Medwedew gelang es ihm vorbildlich, die Dramatik aus dem Stoff herauszuarbeiten und in eine große Oper im spätexpressionistischen Stil zu verwandeln – inklusive Schnitttechnik und die Überlagerung von Szenen, die die Zerrissenheit der Seelen illustrieren.
Die dramatische Wucht, der expressive Grundton von „Der Idiot“ ist an diesem Abend geradezu körperlich präsent. Der Weinberg-Spezialist und Dirigent der Uraufführung, Thomas Sanderling, lässt das RSO Wien bis zur Grellheit aufbrausen. Das Sängerensemble rekrutiert sich aus dem offenbar riesigen Reservoire großer Stimmen aus Osteuropa. Dmitry Golovnin als Myschkin, Ekaterina Sannikova als Nastassja, Ieva Prudnikovaite als Aglaja, Petr Sokolov als Lebedjew, Valery Gilmanov als Jepantschin sowie der im Schlussakt für einige der schönsten Töne des Abends sorgende Dmitry Cheblykov als Rogoschin: Sie alle leiden und leben mit Herzblut und vokaler Explosivität. Irgendwann im Lauf der drei Stunden Musik fühlt man sich von diesem Flächenbrand der Seelen letztlich etwas überfordert und akustisch sowie inhaltlich erdrückt. Ein bisschen viel ist das schon alles, aber das ist ja bei Dostojewskis Roman nicht anders.