Eigentlich hätte die Preisverleihung bereits am 7. Juni im Musil-Haus stattfinden sollen. Nun wurde die Feierlichkeit, bedingt durch Corona, im kleinsten Kreis nachgeholt. Die Schriftstellerin Anna Baar erhielt am Mittwoch aus den Händen von Bürgermeisterin Maria-Luise Mathiaschitz den Humbert-Fink-Preis 2020 überreicht. „Anna Baar schreibt in ihren sprachmächtigen Romanen über Kriege, Verlust, Migration und damit verbundene Identitätsfragen als spannende Erzählungen, die die Lesenden inhaltlich und sprachlich in den Bann ziehen“, begründete die Jury ihre Entscheidung. Die ORF-Journalistin Katka Gasser hielt zur Preisverleihung folgende Laudatio:

"Die Welt ist aus dem Stoff,/der Betrachtung verlangt:“ Ein Satz von Ilse Aichinger: genauer: der Beginn ihres Gedichts „Winterantwort“. Anna Baars Literatur weiß, was es heißt, in Ilse Aichingers Sinn die Welt zu betrachten. Es bedeutet: Das, was sich als Welt zeigt, sprachlich zu durchdringen, die Oberflächen zu durchbrechen, wozu auch zählt: gewohnte Zusammenhänge, gängige Kausalketten zu befragen, um in die Tiefe der Dinge vordringen zu können, dorthin, wo es keine eindeutigen Antworten gibt, dorthin, wo unser aller zumindest „doppelter Boden“ (Pierre Michon) sichtbar wird, dorthin, wo das zutiefst Intime das große Allgemeine berührt, dorthin, wo der Mensch sichtbar wird in seinem ganzen Widerspruch und damit in seiner ganzen schmerzvollen Freiheit und zugleich Determiniertheit, in seiner Schönheit wie Hässlichkeit. Dass sich Anna Baars Literatur eben darauf versteht, zeigt sich nicht zuletzt an der Zeichnung der Figur der Großmutter. Diese Sprachwerdung der Großmutter: sie führt auch dazu, dass man als Lesende letztlich das Gefühl hat, die Großmutter Nada selbst gekannt zu haben, ihr beim Rauchen zugesehen zu haben, selbst das vom Meer umhüllte, ungewaschene Kind gewesen zu sein in ihrer überfordernden, unberechenbaren, einschüchternden und doch so sehr von tiefer Zugeneigtheit getragenen Obhut. In diesem Roman Anna Baars ist realisiert, was Walter Benjamin einst so formuliert hat: „Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze treiben.“

Erfahrungen der Entwurzelung


In Anna Baars Text „Jeder hat seinen Schrecken“, in dem sie erzählend das eigene Aufwachsen und damit das Aufwachsen eines Kindes reflektiert, das sehr früh die Erfahrung von Entwurzelung, von Fremdsein, von einer sehr grundlegenden Obdachlosigkeit macht, ist an einer Stelle zu lesen: „Wir sind nur gerettet auf Zeit.“ Vom vielschichtigen Erkenntniswert dieses Satzes ist die Literatur dieser Autorin durchdrungen. Dieser vielschichtige Erkenntniswert: er entspricht dem, was in Ilse Aichingers Literatur die Denkfigur des Abschieds hervorbringt: die unhintergehbare Einsicht nämlich, dass der Abschied jeder Ankunft voraus geht, dass es der Abschied ist, der das Leben ins richtige Maß setzt. Wir erinnern uns an Rilkes ‚Sonette an Orpheus‘: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter/dir, wie der Winter, der eben geht …/“
Alois Hotschnig denkt in seinem Text „Vorschläge für ein besseres Ende“ den Abschied, den Verlust und das menschliche Potenzial zur Anrufbarkeit durch Kunst, durch Literatur zumal, zusammen: er schreibt: „Was ist es, das uns ansprechbar macht? Oft ist es ein Mangel. Ein Verlust. Denn – immerhin – alles beginnt ja mit einem Verlust. Durch diesen Verlust setzt der Atem ein. Wenn wir nicht abgetrennt würden, wer würde je atmen von selbst? Von sich aus? (…) Diese Trennung, der Schnitt, diese Absonderung ist die Ursache für alles. Damit fängt es an.“ In Anna Baars Roman „Als ob sie träumend gingen“ ist zu lesen: „Am Anfang weiß man nicht, dass es ein Anfang ist, dass etwas beginnt. Es beginnt einfach. Im Anfang war kein Wort.“ Und als ob Alois Hotschnig ein inniges Zwiegespräch mit Anna Baar führte, steht in seinem bereits erwähnten Text geschrieben: „Jedem Satz geht ein Leben voraus.“
Und auch wenn jedem Satz ein Leben vorausgeht: das Leben selbst: es kann nur im Satz, im Erzählen geborgen werden, vor dem Vergessen bewahrt. „Erzähl doch! Erzähl doch!“ fleht still die Ich-Erzählerin im Roman „Die Farbe des Granatapfels“ die Großmutter an, vor deren Tod, vor deren endgültigem Verschwinden das Enkelkind Angst hat. „Mehr als sein eigenes Unglück fürchtete das Kind Nadas Tod, denn was, wenn sie ihm wegstürbe, ihm als letzte Hinterlist ihren Tod antäte?“ Und auch hier: der „doppelte Boden“ dieser Angst.

Erzählen wider das Erschrecken


Diese Angst: das Erzählen bannt sie: es bannt den Schrecken, den nicht nur jede Kindheit, sondern jedes Leben hat. Und: es eröffnet Raum, es schafft Möglichkeiten. Die Fähigkeit des Menschen zu Fiktion ist auch eine Befreiung aus dem, was ist, was an ihm, am einzelnen Menschenleben, klebt als das, was man Schicksal nennt: „Die Wahrheit ist eine Erfindung“, heißt es im Roman „Die Farbe des Granatapfels“.
Und auch wenn sich retrospektiv nichts verändern lässt: es lässt sich bearbeiten, es lässt sich gestalten und schützt so vor dem Erstarren, das - in welcher Spielart auch immer - in seinem Kern, stets gegen den Menschen gerichtet ist. Dieses Erstarren: es lässt den Menschen versteinern in seiner Beschädigtheit, die viele Gesichter hat und ohne die niemand davon kommt: „Jeder kommt einmal zu Fall“, schreibt Anna Baar in ‚Als ob sie träumend gingen‘.
Anna Baars Literatur ist eine, die sich gegen das Erstarren, das stets mit Abstumpfen einhergeht, auflehnt. „Ich will nicht abstumpfen“, sagt Anna Baar immer wieder in Interviews. Die Verzweiflung, die Scham, das Unglück, die Mutlosigkeit sind dabei wichtige Begleiter: sie alle spielen in Anna Baars Literatur eine zentrale Rolle: Glück ist in dieser Literatur ohne das Unglück nicht zu haben. In Anna Baars Roman „Als ob sie träumend gingen“ ist zu lesen: „Es blieb dem Menschen aufgetragen, nicht nur den Freuden, sondern auch den Prüfungen des Schicksals sich freundlich zu stellen, denn niemals würde einem Irdischen ungemischtes Glück zuteil.“
Und weil überhaupt „Ungemischtes“ nur selten der Fall ist, sind auch Mut und Mutlosigkeit, Mut und Verzweiflung eng aneinander gebunden: Es ist davon auszugehen, dass Anna Baar mit der Notiz Ilse Aichingers, in der diese Mut und Verzweiflung zusammendenkt, einverstanden wäre: die Aufzeichnung Ilse Aichingers aus dem Jahr 1956, sie lautet: „Jeden Tag die Verzweiflung neu erwerben, aus der der Mut kommt.“ Mut ohne Verzweiflung gedacht ist wertlos, nicht nur das: nackter Mut ist gefährlich, weil er blind macht. Auch davon erzählen Anna Baars Texte.
Immer wieder kehrt Anna Baars Literatur zu der alten Frage zurück, wie es zu Hass kommt zwischen den Menschen, wie zu Krieg. Und was er, der Krieg anrichtet, weit über sein Ende hinaus. „Nur die Narren glauben, nach dem Krieg sei Frieden,“ steht in dem Roman „Die Farbe des Granatapfels“. Und in ‚Als ob sie träumend gingen‘ sagt eine der Nebenfiguren: „Sie müssen wissen, gute Frau, ein jeder bleibt im Krieg auf seine Art.“
Und doch bleibt das leuchtende Herz dieser Literatur die Farbe des Granatapfels, und damit letztlich der Glaube daran, dass die Antwort auf die Frage „Wie hast du geliebt?“ schwerer wiegt als die Antwort darauf, wie du gekämpft hast.
Anna Baars Literatur steht für Sanftmut und Wachsamkeit, wovon in „Die Farbe des Granatapfels“ in Zusammenhang mit der Figur der Großmutter die Rede ist. Beides, Sanftmut und Wachsamkeit, braucht es heute nicht dringender denn je: sondern so dringend wie zu allen Zeiten und an allen Orten.