Sie ist wieder da. Nach fünf Grazer Saisonen, in denen sie sich mit atemberaubender Hingabe Figuren von Shakespeares Caliban im "Sturm" bis zur Witwe in Thomas Bernhards "Heldenplatz" überzog, war Julia Gräfner im Vorjahr abgewandert, an die Kammerspiele München. Demnächst aber spielt sie wieder in Graz – in der Bühnenadaption von Charlie Chaplins Jahrhundertfilm "Der große Diktator". Denn es gibt gute Nachrichten: Das Stück wird, dank dann endlich beendetem Kulturlockdown, am 26. Mai im Schauspielhaus Premiere feiern. Seit gut zwei Monaten probt Gräfner dafür in Graz. Und es ist, sagt sie, "als wäre ich gar nie weg gewesen."

Ihr Wechsel nach München letzte Saison: retrospektiv betrachtet definitiv der schlechtestmögliche Zeitpunkt?
JULIA GRÄFNER: Anzukommen war unter diesen Bedingungen wirklich schwierig. Sonst stürzt man sich bei einem Neustart ja in jede Premierenfeier und lernt alle kennen. Andererseits: Man wird nicht so von den Ereignissen eingesogen. Vor dem Hintergrund, dass ich gesund bin, angestellt und mich nur um mich selbst kümmern muss, während Kollegen vor ganz anderen Problemen stehen und die Rolle des Theaters ganz allgemein infrage steht, war das eine luxuriöse Situation.

Sind Sie angesichts der Lockdowns in München überhaupt schon zum Spielen gekommen?
JULIA GRÄFNER: Wir hatten sechs Vorstellungen mit Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Ernst Tollers "Eine Jugend in Deutschland". Und natürlich wird geprobt.

Derzeit proben Sie hier den Diktator Hynkel in der Bühnenversion von Charlie Chaplins Film "Der große Diktator" von 1940. Wie nähert man sich denn mit dem Wissensstand von 2021 dieser Figur?
JULIA GRÄFNER: Dieses Vorwissen hat mich erst sehr belastet und blockiert. Ich interessiere mich für Geschichte, so sehr, dass meine Ex-Freundin mir Hitler-Doku-Verbot erteilte, wenn das zu intensiv wurde (lacht). Regisseurin Clara Weyde hat mir da sehr geholfen, weil sie gesagt hat: Man kann in so einem Abend nicht den ganzen Diskurs zur NS-Geschichte und ihren Opfern abbilden. Wir benutzen einen Film, um zu erzählen: Wie verführbar ist der Mensch? Wie sehr verleitet die Inszenierung, die Möglichkeit von Macht?

Chaplin stellte in einer Doppelrolle den Diktator und einen jüdischen Friseur dar.  Sie und Alexej Lochmann spielen zwei heutige Chaplin-Darsteller, die – Stichwort Verführbarkeit – von ihren Rollen übernommen werden?
JULIA GRÄFNER: Mein Bild dazu ist: Man probiert ein Kostüm, zieht die Schuhe an. Die sind nicht unbequem, man denkt: Mit einer Hose würde das noch besser aussehen. Und so weiter. Man verändert sich, und dann landet man an einem Punkt, wo man was Krasses sagt. Nicht, weil man sich entscheidet, ein Nazi zu sein. Sondern weil es einem Stück für Stück gefallen hat.

Sie beschreiben ein aktuelles Thema politischer Diskussion: Die eigene, als moderat erlebte Position verrutscht, wenn radikale Ideen im Mainstream Fuß fassen.
JULIA GRÄFNER: Ich denke nicht, dass solche Tendenzen neu sind. Nur die Darstellung ist neu und die Selbstverständlichkeit, damit an die Öffentlichkeit zu gehen.

Chaplin schrieb später: Hätte er gewusst, was in Nazi-Deutschland wirklich passiert ist, hätte er den Film nicht so lustig gemacht. Ist das Stück lustig?
JULIA GRÄFNER: Ja, so ist das gedacht. Dabei sind Komödienproben nie lustig. Man muss sich auf die Mittel einigen. Und man muss ganz genau sein, damit es funktioniert. Das ist sauanstrengend.

Es gibt im Film ikonische Szenen: Der Tanz des Diktators mit der Weltkugel, Hynkel und sein Konkurrent Napoloni beim Friseur: Gibt’s das auch im Stück?
JULIA GRÄFNER: Das findet sich motivisch wieder, aber wir haben das nicht kopiert. Wenn man das in chaplinesker Brillanz sehen will, muss man den Film ansehen.

Würden Sie sich als deklarierte Theaterschauspielerin bezeichnen?
JULIA GRÄFNER: Eigentlich schon, aber gerade neulich habe ich mir gedacht, ich würde ganz gern einmal drehen. Aber da müsste ich mich halt darum kümmern. Und ich sitze ja nicht zu Hause und habe nichts zu tun.

Julia Gräfner: "Ich sitze ja nicht zuhause und habe nichts zu tun."
Julia Gräfner: "Ich sitze ja nicht zuhause und habe nichts zu tun." © SSH/Lupi Spuma

Aber während die Theater stillstehen, dreht die Filmbranche wie besessen. Fragt man sich da nicht: Ich sollte da mitmachen?
JULIA GRÄFNER: Na ja, das sind sehr eigene, auch geschlossene Systeme, man muss was vorzuweisen haben für Agenten, E-Castings, Live-Castings. Das war ja auch ein Thema der ActOut-Kampagne in der "Süddeutschen Zeitung": dass manche "zu schwul" sind für bestimmte Rollen. Und vielleicht möchte ich ja nicht in einer bestimmten Ecke landen.

Ist Film da so anders als Theater?
JULIA GRÄFNER: Ich habe nicht viel Filmerfahrung, aber überspitzt ließe sich sagen: Ich habe am Theater etliche – auch männliche – Hauptrollen gespielt, in "Der Auftrag", "Der Sturm", jetzt in "Der große Diktator". Und vor der Kamera Weirdo-Zockermädchen, Pflegekräfte, Asi-Bräute. Auch okay. Aber einen Nazi-General werde ich in einer Fernsehproduktion nicht spielen.

Die Bühne bietet interessantere Rollen und Projekte?
JULIA GRÄFNER: Im Endeffekt ja. Ich spiele auch gerne eine Pflegekraft, aber man wird mehr auf Typen festgelegt, und wenn ich mir vorstelle, ich muss das den Rest meines Berufslebens machen, ist es am Theater cooler.

Sie haben im Februar an der Initiative ActOut teilgenommen, bei der sich 185 Schauspieler*innen geoutet haben, um mehr Akzeptanz für LGBTQI-Personen in der Schauspielbranche zu erreichen. Was war Ihre Erfahrung damit?
JULIA GRÄFNER: Ich zähle da nicht zu den führenden Köpfen, ich habe mich halt zur Verfügung gestellt und nur positives Feedback bekommen. Im Internet gab es aber auch Kommentare, aus denen klar wurde, dass es schon gut ist, dass wir das gemacht haben.

Historisch war queeres Leben in den Metropolen einfacher. War es leichter, als Münchner Schauspielerin an der Initiative teilzunehmen statt von Graz aus?
JULIA GRÄFNER: Ach, ich denke, es war auch in Graz total klar, wer ich bin. In München hat man ja auch nicht gerade die Queerness erfunden. Auch deswegen denke ich mir: Gut, dass ich bei ActOut mitgemacht habe. Präsenz zeigen ist immer gut. Auch wenn mein Privatleben sonst niemanden etwas angeht: Wenn es dazu führt, dass man aus gewissen Sachen ausgeschlossen wird, muss man was tun. Ein Theaterpädagoge hat mir gesagt, als ich hier wegging, war die queere Szene aus dem Gries ganz traurig. Das hat mich total gefreut, dass die sich mit mir identifiziert haben und auch wegen mir ins Theater gekommen sind.