Beat Furrer hat Glück. Oder prophetische Fähigkeiten: Wie zuletzt Michel Houellebecq in der Literatur, gelang dem Wahlösterreicher mit seinem neuen Werk "Violetter Schnee" ungeachtet der langen Vorbereitungszeit zielsicher die Oper zur Stunde. In Furrers Stück, das am Sonntag an der Berliner Staatsoper umjubelte Uraufführung feierte, sind fünf Menschen vom Schnee eingeschlossen.

Ungeachtet aller Parallelen zur aktuellen Witterungslage, dient Furrer das von Händl Klaus auf der Basis einer Vorlage des russischen Kultautors Wladimir Sorokin geschriebene Libretto nicht als Kommentar zum Klimawandel, sondern viel mehr als Parabel für eine Situation der Ausweglosigkeit. So finden sich die Protagonisten von "Violetter Schnee" im Schneetreiben als Sinnbild einer der Zeit enthobenen Lage.

Der Umgang der als Archetypen gehaltenen Charaktere mit dieser Situation differiert dabei beträchtlich. Während der von Otto Katzameier gesungene Jacques Zwiesprache mit dem Schnee hält und diesen annimmt, sind Peter (Georg Nigl) und die von der in Wien bestens bekannten Anna Prohaska gesungene Silvia defätistisch angesichts der Lage, Sinnbilder für grassierenden Pessimismus. Ihnen gegenüber stehen Jan (Gyula Orendt) und Natascha (Elsa Dreisig) als Optimisten, die den Glauben an eine neuerliche Zukunft nicht verloren haben. Die Kommunikation zwischen diesen Fraktionen fällt jedoch zusehends schwerer, die Brücken über die Gräben werden brüchig.

So weicht die anfängliche Echauffiertheit alsbald der substanziellen Sprachlosigkeit im Angesicht des Gegenüber. Die Worte werden von Händl Klaus gleichsam fragmentiert, zerhackt in ihre kleinsten noch Bedeutung ergebenden Elemente. Dialog wird ersetzt durch wechselseitigen Monolog, plappernder Duktus durch Stottern. Es entfalten sich zunehmend repetitive Szenen, Impressionen der Kälte, die daraufhin kurz gewendet werden und sich variiert wiederholen, Gedankenblitze, die das Dunkel der Schneenacht durchzucken und ebenso schnell verschwinden, wie sie kamen.

Zwar scheinen kurze Konstellationsänderungen der Paare auf, wenn etwa ein Verhältnis von Natascha und Jan angedeutet wird, die Narration im eigentlichen Sinne ist jedoch allenfalls ironisches Zitat. Sinn wird nicht gefunden und meist nicht einmal gesucht. Ob das Ende schließlich der Untergang, Befreiung oder gar beides zugleich ist, bleibt offen.

In dieser bewussten Ambivalenz steht Beat Furrer seinem Librettisten Händl Klaus, mit dem er bereits 2010 für "Wüstenbuch" kooperierte, in nichts nach, auch wenn nun der Schnee den Sand ersetzt. Der 64-jährige Tonsetzer hat mit "Violetter Schnee" eine denkbar uneitle Partitur geschaffen. Streckenweise reduziert sich die Musik zur breiten Bassklangfläche, wird mehr Klanginstallation denn Musiktheater und deckt den weichen Klangteppich wie eine Schneedecke über die Landschaft.

Beat Furrer
Beat Furrer © Atelier Heimo Binder

Furrer nimmt sich in einzelnen Szenen bis zur reinen Hintergrundmusik für die Sprache zurück, um sich im nächsten Moment zur Kakophonie aufzuschwingen. Crescendi brechen ins Nichts weg, Glissandi-Kaskaden feuern als zielloser Exzess vor sich hin, bevor das üppig ausstaffierte Schlagwerk an einer Stelle gar Vivaldis "Winter" evoziert. Mikrotonale Intervalle lassen das Geschehen im Ungefähren schweben, musikalische Zwischenspiele wechseln mit langen Gesangspassagen.

So entsteht vor den Ohren der Zuschauer ein unentwirrbares Gewebe, in dem die Musik sich aus einem charakteristischen Sprachduktus heraus entwickelt und die Worte gleichsam den modularen Charakter der Musik aufnehmen. Gilt das Primat der Musik oder dem Text? Diese alte Frage der Oper lässt sich im Falle von Furrer/Händl schlicht nicht beantworten. Vielleicht lautet die Antwort an diesem Abend: Das Primat gilt der Inszenierung.

Regisseur Claus Guth ist in Zusammenarbeit mit seinem Licht- und Videodesigner eine schlicht grandiose Umsetzung eines als Musiktheater im Sinne eines fortschreitenden Geschehens in Raum und Zeit nur bedingt funktionalen Stückes gelungen. Räume verkleinern und erweitern sich bei Guth im Handumdrehen, ein klaustrophobes Zimmer mutiert mittels Hebebühne zur weiten Schneelandschaft, Schneegestöber umtost einen von derlei Unbilden scheinbar unbetroffenen, warm beleuchteten Raum.

Die optische Gestalt des Abends gibt zum Auftakt Martina Gedeck mit der Sprechrolle der Tanja vor, die in einem beinahe 20-minütigen Prolog das Wiener Kunsthistorische Museum zu Ehren kommen lässt. Tanja hebt zur Bildexegese über Pieter Bruegels dort befindliches Gemälde "Die Jäger im Schnee" an. Das Barockwerk dient für den weiteren Verlauf des Abends als optischer Referenzpunkt, wird nicht nur sprachlich, sondern auch optisch in seine Mikroaspekte zerlegt. Tableaux vivants, direkt aus Bruegel entsprungen, wechseln mit Aktionstheater, starke Bilder mit dem unbedingten Fokus auf einzelne Figuren.

Am Ende wandeln die Akteure im Halbschatten der Winterlandschaft im Zwischenreich von Suchen und Totentanz. Ein starkes Schlussbild für ein vor allem in der Umsetzung starkes Werk. So gab es letztlich in Berlin euphorischen Jubel für alle Beteiligten dieses beinahe österreichischen Abends. So kamen neben Furrer und Händl doch auch Kostümbildnerin Ursula Kudrna, Videogestalter Arian Andiel sowie Georg Nigl und Anna Prohaska aus Österreich respektive haben österreichische Wurzeln. Der alpine Raum hat eben Kompetenz bei der weißen - pardon - violetten Pracht.