Martin Walser hat wuchtige, meisterhafte und oft viel diskutierte Werke in die deutschsprachige Literaturlandschaft gestanzt. Mächtig im Umfang meist, sprachmächtig allemal. Doch zuletzt sind die Würfe und Entwürfe des Dichters vom Bodensee schmal geworden. Schmal im Umfang, mitunter auch schmalbrüstig in Ton und Aussage.

Es ist, als ob der Autor – Walser ist 92 Jahre alt – vor den Augen der Leser Seite um Seite immer weniger wird, gleichsam schreibend verschwindet, verblasst, sich aber dennoch mit aller Kraft am Leben – das bei ihm mit dem Schreiben gleichzusetzen ist – festhält. Das ist, auch für den Leser, ein – so paradox das klingen mag – schmerzhaft-schöner Vorgang, der aus Literatur mehr macht als das bloße Lesen von Büchern.

Jetzt also das neue Büchlein, 91 Seiten schmal. „Mädchenleben oder Die Heiligsprechung“ heißt es, Untertitel: Legende. Dieses Mädchen, Sirte Zürn, hat sich schon vor Jahrzehnten im Kopf des Schriftstellers eingenistet. Bereits in seinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1961 finden sich ausführliche Sprachskizzen zur Handlung, sofern man von einer solchen sprechen kann. Und auch der Name „Zürn“ wird Connaisseurs bekannt vorkommen: Ein Gottlieb Zürn war Akteur mehrere Walser-Romane.

Sirte also. Das Mädchen verschwindet, taucht wieder auf, verhält sich höchst eigenartig, schreibt dem Erzähler – dem Lehrer Anton Schweiger – geheimnisvolle Briefe. Dieser, wie könnte es anders sein, verfällt dem Mädchen. Der Vater will die Tochter heiligsprechen lassen – Material für diesen Schritt gäbe es zur Genüge. Dieser Vater, heilig im Denken, unheilig im Tun. Die Frau wird geschlagen, auch vergewaltigt, erfährt man fast nebenbei. Er selbst, der Vater, wirft sich zu Boden und beschmiert sich mit Kuhfladen. Dreck und Schmutz allerorten und mittendrin Sirte, die Heilige in spe. Oder doch nicht, heilig nämlich?


Man könnte „Mädchenleben“ als verwirrtes und verirrtes Altersächzen abtun. Doch so einfach macht es uns Walser nicht, hat er noch nie getan. Den dieses rätselhafte Büchlein und seine entrückten Figuren üben eine magische – ja, man muss es so banal sagen – Anziehungskraft auf den Lesenden aus und lassen ihn zutiefst berührt zurück. Wovon genau, lässt sich schwer sagen. Aber so ähnlich muss es wohl auch dem Lehrer Anton Schweiger ergangen sein. Mit dem Mädchen Sirte.

Zum Buch:
Martin Walser. Mädchenleben oder die Heiligsprechung. Legende. Rowohlt. 91 Seiten, 20,60 Euro.

Martin Walser: "Mädchenleben"
Martin Walser: "Mädchenleben" © KK