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Kein anderer Autor des 20. Jahrhunderts hatte so viele Gesichter wie Thomas Bernhard. Und kein anderer Autor bekam so viele Beinamen. Vom „heiteren Tragiker“ über den „Verzweiflungsvirtuosen“ und den „ins Finstere vernarrten Komödianten“ bis hin zur „misanthropischen Wortmühle“. Stets suche der notorische Einzelgänger nach Grenzsituationen. Er bezeichnete das als „psychisches Seiltanzen“. Bernhard: „Das Seil immer höher zu spannen, ist natürlich ein großes Vergnügen.“

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Thomas Bernhard erwarb sich ein sprachliches Monopol. Durch die Rhythmik, durch die hohe Musikalität, durch gezielte
Wiederholungen, durch groteske Wortverleimungen. Wer
versucht, sich stilistisch anzunähern, verbrennt sich die Finger.

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Seine Brüder im Geiste fand er vor allem in Frankreich, und er lenkte auch das Augenmerk immer wieder auf sie – von Montaigne über Blaise Pascal bis zu Voltaire. Es sind keineswegs die schlechtesten Bekanntschaften, die er vermittelte.

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Die Beschimpfungs- und Übertreibungskünste von Thomas Bernhard waren meist sehr flächendeckend. Er beleidigte alle und somit
niemanden wirklich, von den Handwerkern bis zu den Feuerwehrleuten. Auch all seine Städtebeschimpfungen funktionierten nach diesem Prinzip; nicht selten waren sie augenzwinkernd gemeint.

Thomas Bernhard
Thomas Bernhard © ORF/APA

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Noch ein Wort zu den Städtebeschimpfungen, die ja, etwa in Salzburg oder in Augsburg, heftiges Skandalgeschrei auslösten. Mehrmals gab es, da wie dort, von den Bürgermeistern einberufene Sondersitzungen. Dies brachte es immerhin mit sich, dass etliche Politiker, notgedrungen,
zu Bernhard-Lesern wurden.

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Apropos Politik: Mit cleveren Schachzügen holte sich Bruno Kreisky etliche Künstler und Intellektuelle ins Boot, vor allem durch seine Vorliebe für Robert Musil. Als Kreisky eine Koalitionsregierung mit dem freiheitlichen SS-Mann Friedrich Peter installierte, herrschte Schweigen
im Walde. Mit einer Ausnahme: Thomas Bernhard. Er ging mit dem Kanzler („Höhensonnenkönig“, „rosaroter Beschwichtigungsonkel“ etc.) heftig in den Clinch.

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Endlich und endgültig sorgte Thomas Bernhard für ein
eindeutiges Reglement in der Suppenfrage. In seiner Kindheit liebte er Erbsensuppe „aufs Höchste“, dieser kehrte er später aber aus unbekannten Gründen den Rücken. Er wandte sich in etlichen
Theaterstücken der Nudel- und der Frittatensuppe zu, mitunter höchst verärgert. Dies führte zu einem keineswegs unbedeutenden Suppenerlass: „Klar und ungebunden muss sie sein.“

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Als leidenschaftlicher Provokateur und Meister der Vorab-Inszenierung führte er vor allem via „Kronen Zeitung“ Millionen Österreicher mit dem Stück „Heldenplatz“ im Be- und Gedenkjahr 1988 an der Nase herum. Die große, enorm empörte Mehrheit, die letztlich den größten Theaterskandal seit 1945 auslöste, kannte oft keine Zeile des Stücks oder nur einige in der Öffentlichkeit kursierende Textfragmente. Bernhards Ruf als „Nestbeschmutzer“ wurde wortgewaltig untermauert. Nach der Uraufführung herrschte erstaunlich viel Betroffenheit.

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Als Thomas Bernhard wenige Monate später, am 12. Februar 1989, starb, vergrößerte sich die Betroffenheit. Die Nation, die aus mindestens sieben Millionen Bernhard-Experten und ebenso vielen Burgtheaterdirektoren bestand, hatte ihren wichtigsten Reibebaum verloren.