Glauben Sie an Gott?“, fragt eine Figur in diesem Roman sein Gegenüber. Dieses zögert kurz und antwortet: „Die Frage ist, ob Gott noch an uns glaubt.“ Einmal mehr beweist der britische Autor Hari Kunzru sein instinktsicheres Gespür als Fährtenleser, der den Abdrücken der Menschen durch Zeit und Raum folgt, ohne im Dickicht der Handlungsebenen jemals die Spur der Geschichte zu verlieren.

In seinem letzten Buch „White Tears“ schickte Kunzru seine Protagonisten auf die Suche nach einem mystischen Blues-Song, und auch in seinem neuen Roman „Götter ohne Menschen“ ist es der diffuse Wunsch, an etwas zu glauben, der die Menschen antreibt. Glauben an Gott, an Außerirdische, an die innere Einkehr nach dem Ausverkauf der Seele oder – wie das Ehepaar im zentralen Erzählstrang – an die Heilung der Wunden, die man einander zugefügt hat.

„In der Wüste, schaut hin, sieht man alles und nichts. Das ist Gott ohne die Menschen.“ Dieses Balzac-Zitat hat Hari Kunzru diesem sprachmächtigen, aber nie übergewichtigen Roman vorangestellt und ihn in der erschreckend schönen Mojave-Wüste angesiedelt, wo die Sinnsuchenden zu allen Zeiten umhergeirrt sind.
Der missionierende Franziskaner-Mönch im 18. Jahrhundert, der Kriegsveteran in den 1950er-Jahren, die esoterische Hippie-Kommune Ende der 60er-Jahre und das Ehepaar Lisa und Jaz Matharu mit seinem autistischen Sohn Raj in der Jetztzeit. Lisa ist jüdischer Herkunft, Jaz indischer Abstammung. Trotz Aufgeklärtheit clashen die Kulturen aufeinander und die Ehe erodiert zunehmend.

Der „Familienausflug“ endet in der Katastrophe, als der vierjährige Raj plötzlich spurlos in der Wüste verschwindet. Haben die Eltern etwas damit zu tun? Alsbald trifft ein hysterischer Medientross in der flirrenden Hitze ein, und im Roman beginnt eine geifernde Hetzjagd, die nur von der Wirklichkeit übertroffen werden kann.

Hari Kunzru ist ein grandioser, hellsichtiger Erzähler, der die Fäden stets in der Hand hat, seinen Figuren aber den Freiraum lässt, den sie brauchen. Auch wenn sie ihn oft nur dafür verwenden, sich darin zu verlieren. Einmal mehr zeichnet dieser zu Recht hochgelobte und vielfach ausgezeichnete Autor ein Gegenwartspanorama, das er mit Vergangenheiten verknüpft, die nicht im Früher verweilen, sondern im Jetzt nachhallen. Denn schon einmal ist in dieser Wüste ein Kind verschwunden und schon einmal hat eine Meute eine Menschenjagd veranstaltet.

Wie jeder gute Roman liefert auch dieser bei Weitem nicht alle Antworten auf dem Silbertablett, aber er stellt die richtigen Fragen. Unter anderen diese: „Glaubt Gott noch an die Menschen?“

© KK

Buchtipp: Hari Kunzru, Götter ohne Menschen,
Liebeskind, 414 Seiten, 24,70 Euro.