Zwischen Zagreb und Wien zerfällt Europa. Am Beispiel der in Rückblenden erzählten Familiengeschichten von Kamilo Emerički und Ana Borongay zeichnet der kroatische Autor Miroslav Krleža (1893–1981) ein imponierendes Bild von der Zerstörung des Bestehenden und ein weitgehend unbekanntes Bild von Europa in den Jahren 1912 bis 1922. Krležas im Original „Zastave“ über 3000 Seiten starkes Werk liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. „Die Fahnen“ füllen fünf Bände mit insgesamt 1874 Seiten, dazu gibt es ein 138-seitiges Glossar mit historischen Hintergründen.

Wann dachten Sie das erste Mal darüber nach, dieses Mammutwerk zu übersetzen?
LOJZE WIESER: 1978. Da bin ich das erste Mal mit dem Werk konfrontiert worden. Ina Jun-Broda, die Grande Dame der Übersetzung aus den jugoslawischen Sprachen, hat mich zu sich gebeten und auf mich eingeredet: Das müssen Sie machen. Ich hatte damals keine Ahnung, wie das verlagstechnisch funktionieren könnte. Ina Jun-Broda wollte Krleža überreden, das Werk zu kürzen. Im Kroatischen hatte das ja 3000 Seiten. Nach einem Jahr war Krleža bereit, den Roman auf 800 Seiten zu kürzen, ist aber dann gestorben und bald darauf auch Jun-Broda. Damit ist die Sache wieder eingeschlafen.

Wieso war es für Sie so wichtig, den Roman „Zastave“ auf Deutsch herauszubringen?
Weil er ein völlig anderes Bild von Europa und den kriegerischen Ereignissen zeichnet. Weil der Fokus auf Südosteuropa liegt und damit der ganze Kontinent in anderem Licht erscheint. Die inneren Verhältnisse der Machtstrukturen der österreichisch-ungarischen Monarchie und der jugoslawischen Monarchie werden ganz anders beleuchtet, als wir sie aus der Geschichtsschreibung kennen.

Zum Beispiel?
Die Wahrnehmung dessen, was für den Erhalt einer Kultur wichtig ist, ist komplett anders. Es gibt keine deutschsprachige Dominanz. Die Selbstbehauptung der Kulturen macht sich bemerkbar. Es ist hochaktuell, wie Krleža den Verfall der Gesellschaft darstellt. Vieles, was bei Krleža steht, finden wir heute in einer abgewandelten Form wieder, auch die Ratlosigkeit und Orientierungslosigkeit der heutigen Gesellschaft. Es ist wie ein Echo des Jahrhunderts. Was sich vor 100 Jahren aufgetan hat, um gelöst zu werden, ist aus heutiger Sicht nicht beantwortet worden.

Woher kommt diese Blindheit auf dem südosteuropäischen Auge? Während man in Kroatien Joseph Roth, Robert Musil und Thomas Mann sehr wohl kennt, hat man in Mitteleuropa noch nie von Miroslav Krleža gehört.
Man muss ihn in Wirklichkeit buchstabieren. Es ist ja sogar Ivo Andrič, der Nobelpreisträger von 1961, vergessen. Diese Spaltung, die in Europa lange gegenüber dem jugoslawischen Teil existiert hat, ist im Unterbewusstsein noch immer vorhanden. Unsere Mühen in den letzten 35 Jahren, dem beizukommen, haben zwar einiges bewegt, aber es müsste noch wesentlich mehr getan werden.

Wie schwierig war es, geeignete Übersetzer zu finden?
Das war nicht das Problem, wir haben in den letzten Jahrzehnten ja einige gute Übersetzer aufbauen können. Im Teamwork von Silvija Hinzmann, einer seit mehr als 25 Jahren als Gerichtsdolmetscherin in Deutschland lebenden Autorin, und Gero Fischer, der schon Andrič für uns übersetzt hat und ein sehr präziser Arbeiter ist, ist das gelungen.

Wie viel Zeit sollten Leser für „Die Fahnen“ einplanen? Am besten Urlaub nehmen?
Wenn man sich darauf einlässt, dann wie bei Marcel Proust auf eine neue Erfindung von Zeit. Für wütige Leserinnen und Leser kann es ein 14-Tage-Unternehmen sein, lesend Tag und Nacht im Bett liegend. Andere werden vielleicht drei oder vier Monate brauchen, aber mit Gewinn aussteigen.

Hat es sich für Sie ausgezahlt, „Die Fahnen“ vor Weihnachten herauszubringen?
Schon. Wir sind jetzt gut drei Wochen heraußen und haben knapp 300 Stück umgesetzt.