Die am Sonntag abgeschlossenen 44. Tage der deutschsprachigen Literatur finden starken Widerhall im deutschen Feuilleton. Auf positives Echo stößt die Vergabe des Bachmann-Preises an die 80-jährige deutsche Autorin Helga Schubert, während der neue Juror Philipp Tingler in einer als insgesamt gelungen gewerteten virtuellen Ausgabe der sonst in Klagenfurt abgehaltenen Veranstaltung auf Kritik stößt.

"Frankfurter Allgemeine Zeitung":

"Die Bachmannpreis-Jury, die sich, virtuell ins Klagenfurter Fernsehstudio übertragen, in diesem Jahr streitlustig stark zeigte angesichts vieler schwacher Texte, ließ bereits am Freitag in der Diskussion über Helga Schubert erkennen, dass diese Favoritin sein könnte. Selbst der neu in die Jury gekommene Kritiker Philipp Tingler, der sich oft wie ein trotziges Kind, dann auch wie ein Schwererziehbarer verhielt, erklärte trotz einiger Bedenken, dass er Helga Schubert nun liebe. (...) Herausgefordert durch die virtuelle Form des Wettbewerbs und Tinglers Tiraden, hat die Jury ihre Arbeit insgesamt bravourös gemacht, auch dank des Moderators Christian Ankowitsch und manche interessante Grundsatzdebatte über Literatur geführt, etwa anhand des engagierten Texts "Immer im Krieg" von Egon Christian Leitner (Kelag-Preis). Trotzdem wünscht man sich Publikum und Saalatmosphäre dringend zurück."

"Süddeutsche Zeitung":

"Die Form war noch nie dagewesen bei einem aufwendigen Fest der Literatur und vor allem auch der Literaturkritik, wie es der Bachmann-Wettbewerb ist. Das Ergebnis steht dabei für Kontinuität und das historische Gewicht dieser Institution: Nicht nur war Helga Schubert, die 1940 geboren wurde, die älteste Teilnehmerin, die es je gab, sie hat auch eine Geschichte mit dem Bewerb. 1980 war sie schon einmal eingeladen, als Autorin dort zu lesen. Aber da verbot ihr die DDR die Ausreise. 1987 bis 1990 durfte sie dann doch als Jurorin nach Klagenfurt fahren, bekam aber einen systemtreuen Aufpasser mitgeschickt. 2020 hat sie nun also den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. (...)

Am Ende hat die Kritikerjury also eine völlig unanfechtbare Entscheidung getroffen, nachdem sie drei Tage lang ziemlich zäh zu kämpfen hatte. Und zwar nicht mit der Übertragungstechnik und leider auch nicht um literaturkritische Methoden, sondern mit der Attitüde eines ihrer Mitglieder. Philipp Tingler, zum ersten Mal dabei, schreibt selbst Unterhaltungsromane und ist im Schweizer Fernsehen als Literaturkritiker zu sehen. Mit seinen Marken-Pullis und egomanischen Ausfällen machte er zwar den Kommentatoren auf Twitter viel Spaß. Am Format dieser Veranstaltung hatte er sich aber offenkundig verhoben. Außer normativen Meinungen ("Literatur sollte eine Geschichte erzählen") und Kalendersprüchen, wie "Literatur ist dazu da, Welten zu eröffnen", hatte er wenig zu bieten. Da kann eine halbe Stunde Diskussion ganz schön lang werden. Tingler meldete sich oft und laut zu Wort und zwang seine Kollegen zu pädagogischen Einlassungen. Gerade im Kontrast glänzten aber in diesem Jahr die Dynamik, Vielfalt und Belesenheit ihrer Interpretationen. Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der österreichischen Wochenzeitung 'Die Furche', auch zum ersten Mal in der Jury, erwies sich nach anfänglicher Zögerlichkeit als sich sehr genau einfühlende Leserin."

"Frankfurter Rundschau":

"Der Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 für Helga Schubert ist eine Fügung in mehr als einer Hinsicht. Der läppischste Teil davon war am Sonntagmittag keineswegs die Freude der Schriftstellerin, die unter anderem erklärte: Die in diesem Jahr ausschließlich virtuelle Übertragung der Tage der deutschsprachigen Literatur sei für sie ein Geschenk des Schicksals gewesen, weil sie ihren Mann pflege und nun trotzdem Gelegenheit gehabt habe, vom ersten bis zum letzten Moment am Bildschirm dabei zu sein. (...) Die Situation war insgesamt sonderbar, aber das meiste funktionierte. (...) Wer sich die Videos nach der Arbeit und nachts angeschaut hat, wusste irgendwann nicht mehr, welche jammervolle und doch aufmerksamkeitsheischende Topfpflanze wo ins Bild gekommen war. Dem in den letzten Jahren gleißend weißen Saal setzten die Ausstatter vor Ort ein blau-dämmriges Retro entgegen, in dem der Moderator Christian Ankowitsch mal hier, mal dort oder in einem Sitzei auftauchte. Die Jurorinnen und Juroren hatten jeweils ihre eigenen, zweifellos sorgfältig ausgewählten Umgebungen in der Heimat, wahlweise mit Büchern, Nippes und / oder Kunst oder nichts von alledem. Auch die Lesungen, vorher aufgezeichnet, fanden hier und dort statt. Dazu Vogelgezwitscher, Martinshörner, Glockengeläut, oft irrwitzig passend. (...) Überhaupt war Tingler - wer ihn bisher nicht so wahrgenommen hatte, erlebte eine nostalgische, aber trotzdem enervierende Mischung aus Pop-Attitüde, einem Ich-weiß-es-ich-weiß-es-Strebertum und Unterstellungen bei gleichzeitigem Beleidigtsein - ein erstaunlicher Beleg dafür, dass Verve und Entschlossenheit auf dem Gebiet der Literatur nicht immer weiterführen. Immer interessanter wurde einem womöglich unterdessen Schwens-Harrant, die stiller und beim Sprechen viel fahriger und individueller ihre Punkte machte. Tingler, der gelegentlich vom eingefahrenen Feuilleton sprach, war der viel eingefahrenere Feuilletonist und dabei seltsam von gestern."

"Tagesspiegel":

"Der Ingeborg-Bachmann-Preis gehört zu der Sorte von Literaturpreisen, die häufig Schriftstellerinnen und Schriftsteller bekommen, die am Anfang ihrer Karrieren stehen. In diesem Jahr ist das anders, wie so vieles. (...) Nun hat Schubert in ihrem Schreibleben manchen Literaturpreis gewonnen, doch ist dieser für sie ein besonderer. Die Tränen, die sie nach der Entscheidung vergießt, belegen das. (...) Diese verschlungene Ost-West-Geschichte dürfte in Zukunft zu einer der erzählenswertesten des Bachmann-Wettbewerbs zählen. Womöglich rangiert sie bald über der legendären Stirnschlitzerei von Rainald Goetz. Helga Schubert aber hat den Preis nicht nur deshalb bekommen, ihre autobiografische Erzählung "Vom Aufstehen" ist eine der besten des Jahrgangs, wenn nicht wirklich die beste. Ein Jahrgang, der in seiner Gesamtheit sowieso ein anständiger, bisweilen sogar grundguter gewesen ist. (...) Es sind in diesem Jahr hauptsächlich Autorinnen gewesen, die zu überzeugen wussten. (...) Doch die Jury diskutierte live, und bis auf eine Ausnahme war diese Diskussion manierlich und rücksichtsvoll. Es wirkte nicht so, als ob das fehlende Sich-in-die-Augen-Schauen der Diskussionsfreude Abbruch tat. Die Ausnahme war der Neujuror, der Schweizer Schriftsteller Philipp Tingler. Er machte sich unbeliebt, indem er den anderen ständig ins Wort fiel. Schien es zunächst, dass er das Korrektiv zu hochfahrenden Interpretationsleistungen bildete, fiel Tingler im Verlauf durch einen doch dürren Literaturbegriff auf: Plot, Handlung, Unterhaltung, sonst nix. (...) Ist der Wettbewerb in dieser Form ein Modell für die Zukunft? Besteht die Gefahr, dass er künftig ganz ins Netz verlagert wird? Hörte man die Äußerungen der für die Organisation Verantwortlichen vom ORF, scheint es viel unaufwendiger zu sein, die Bachmannpreis-Tage live vor Ort stattfinden zu lassen. (...) Am Ende dürfte diese digitale Ausgabe, ein Segen gewesen sein. So innig wie dieser Tage wurde das baldige Wiedersehen im kommenden Jahr selten herbeigesehnt. Der Fortbestand des manches Jahr bedenklich wankenden Literaturpreisriesen dürfte gesichert sein."

"taz":

"Technisch gab es am ziemlich minutiösen Live-Schalten-Nachbau genau ein Problem: Ton und Bild kamen jeweils verzögert an, das war trotz professioneller Übertragung ganz wie bei Zoom. Dies machte die schnelle, witzige Reaktion in der Jury-Diskussion schwierig. Man muss allerdings sagen, dass diese Jury ohnehin nicht zum Schnellen, Witzigen neigt, dafür eher zu etwas sinnlosen Grundsatzdiskussionen. Die Verzögerung verschärfte allerdings technisch, was diskussionsethisch so oder so ein Problem war: die ständigen Zwischenrufe des Kritikers Philipp Tingler, der nicht nur Thatcher-Fan, sondern auch Schriftsteller ist und als solcher 2001 in Klagenfurt nicht reüssierte. "Extreme Koketterie und Selbstverliebtheit" hatte Konstanze Fliedl damals, den Text betreffend, moniert. Mit seiner Performance lieferte Tingler wenig Grund, in seinem Fall für die Trennung von Autor und Werk zu plädieren. Dafür jeden Grund, ihn gleich wieder aus der Jury zu kicken."