Bernd Melichar

Er verbindet in seinem Roman Menschengeschichte mit Weltgeschichte, mit „Lektionen“ hat Ian McEwan ein Meisterwerk über ein Lehrstück namens Leben geschrieben. In einem großen, überlappenden Erinnerungsstrom lässt Roland Baines sein Leben, beschädigt durch eine frühe Zäsur, an sich vorbeifließen. Große Literatur – tiefschürfend und weitblickend.
Ian McEwan. Lektionen. Diogenes, 714 Seiten, 33,50 Euro.

© kk

Enfant terrible, literarisches Ekel, Gottseibeiuns für Rechte und Linke: Die Zuschreibungen für Michel Houellebecq sind vielfältig – und meist falsch. Mit „Vernichten“ hat der Franzose einen für viele irritierend zarten Roman geschrieben, eine Ode an Familie und Ehe voll kindlicher Sehnsucht nach Unversehrtheit. Das Rätselraten über den Rätselhaften darf weitergehen.
Michel Houellebecq. Vernichten. DuMont, 624 Seiten, 28,90 Euro.

© kk

Am 8. Februar dieses Jahres ist der große österreichische Literat Gerhard Roth im Alter von 79 Jahren gestorben. Mit „Die Imker“ setzte er einen wuchtigen Schlussstein unter sein schier uferloses Werk. Eine hellsichtige Dystopie, das erschütternd exakte Protokoll der letzten Tage der Menschheit. Ein Kreis, der mit „Landläufiger Tod“ begann, schließt sich, die Irrfahrt endet.
Gerhard Roth. Die Imker. S. Fischer, 550 Seiten, 32,90 Euro.

© kk

Marianne Fischer

Aufzeichnungen aus der Ukraine, die noch vor Beginn der Invasion Ende Dezember 2021 beginnen: Andrej Kurkow, einer der wichtigsten Autoren des Landes, erzählt in seinem „Tagebuch“ von den Menschen und ihrem Überlebenswillen, vom neuen Patriotismus und von Putins Größenwahn. Das eindringliche und berührende Porträt eines Landes vor und während des Kriegs.
Andrej Kurkow. Tagebuch einer Invasion. Haymon, 352 Seiten, 20 Euro.

© kk

Houston 1996. Der schwarze Demokrat Hathorne und die weiße Republikanerin Wolcott stehen sich bei der Bürgermeister-Wahl gegenüber. Als die Leiche eines Mädchen gefunden wird, wird Hathorne des Mordes verdächtig.  Packender Justizthriller, angesiedelt an einem Brennpunkt zwischen großer Politik und privater Tragödie. Großartig geschrieben, spannend erzählt.
Attica Locke. Pleasantville. Polar-Verlag, 450 Seiten, 26,70 Euro.

© kk

Felix Blom, gerade aus dem Gefängnis entlassener Gauner, bekommt es im Berlin des Jahres 1878 mit einem ziemlich fiesen Killer zu tun. Gut also, dass er in die Detektei der Ex-Prostituierten Mathilde Voss eingestiegen ist. Die in Wien lebende Autorin Alex Beer hat eine neue, exzellent recherchierte und süffig zu lesende Krimireihe rund um ein charmantes Duo gestartet.
Alex Beer. Felix Blom. Limes-Verlag, 368 Seiten, 18 Euro.

© kk

Karin Waldner-Petutschnig

Ein Tropfen bringt das Fass zum Überlaufen, Helene steht vom abendlichen Familienessen auf und springt vom Balkon. Doch eigentlich ist es die Geschichte von ihrer Freundin Sarah, die erschüttert der Familie hilft. Und die von Helenes Tochter Sarah, die radikalisiert in einer Frauen-Gang einen Rachefeldzug startet.
Mareike Fallwickl. Die Wut, die bleibt. Rowohlt, 384 Seiten, 22,95 Euro.

© kk

Unterhaltsam und klug, spannend und komisch: Die Chemikerin Elisabeth Zott setzt sich gegen die patriarchale Wissenschaftswelt der 1960er-Jahre zur Wehr. Aber erst als sie als TV-Köchin durchstartet, wird sie zum Star. Im Laborkittel erläutert sie die chemische Zusammensetzung ihrer Speisen, erzählt von Basen und Säuren, erklärt, was Enzyme sind. Köstlich!
Bonnie Garmus. Eine Frage der Chemie. Piper, 464 Seiten, 22,60 Euro.

© kk

Die Poetry-Slammerin und Rapperin Mieze Medusa erzählt in ihrem vierten Roman leichthändig zwei parallele Geschichten, deren Protagonistinnen sich erst gegen Ende begegnen: Laura aus Tirol (20) und die Wienerin Fred (40) gehen ihre Wege abseits gängiger Rollenklischees. Erfrischend und witzig!
Mieze Medusa. Was über Frauen geredet wird. Residenz-Verlag, 256 Seiten, 25 Euro.

© KK

Werner Krause

Er wirkte oft, als sei er ein Relikt aus einer anderen Zeit. Und doch wurde der deutsche Autor Peter Kurzeck (1943–2013) zu einem der wichtigsten und sprachlich präzisesten Chronisten, dessen gigantisches Werk mit jenem von Marcel Proust verglichen wird. „Und wo mein Haus“ über die Jahre der Flucht aus Böhmen ist ein idealer Einstieg in Kurzecks Erzählkosmos.
Peter Kurzeck. Und wo mein Haus? Schöffling. 178 Seiten,
24,60 Euro.

© kk

Kann man alle wichtigen literarischen Genres, von virtuosen Fiktionen über einen Krimi bis zur perfekten Parodie auf den Literaturbetrieb, in eine labyrinthische Geschichte verpacken? Man kann, wie Mohamed Mbougar Sarr in seinem poetischen Puzzle rund um einen fiktiven Dichter beweist. Ein Geniestreich des Jahres.
M. M. Sarr. Die geheimste Erinnerung der Menschen.
Hanser, 44 Seiten, 27,90 Euro.

© kk

Als Musikerin nahm sie im Sommer endgültig Abschied von der Bühne, aber Patti Smith ist ja eine ebenso exzellente Autorin und Fotografin. Das „Buch der Tage“ ist eine wunderbare poetische Reise in 365 Bildern; einem Fenster in eine andere, stille Welt gleich, geprägt durch das unentbehrliche Prinzip Hoffnung.
Patti Smith. Buch der Tage. Kiepenheuer & Witsch,
400 Seiten, 33,50 Euro.

© kk

Ute Baumhackl

Das fährt, aber hallo! Sprachmächtiger Roman um eine Frau, die lernt, sich vor dem „Mürbteig, aus dem die Menschen hier gemacht sind“, zu grausen und dem ländlichen Idyll Widerstand zu leisten. Helena Adlers Fabulierkunst und -lust fasst diese Familiengeschichte in grandiose, kunstvolle Wimmelbilder. Und die sind eindeutig mehr Bosch als Breughel.
Helena Adler. Fretten. Jung und Jung, 192 Seiten, 23 Euro.

© kk

Manches an diesem üppigen, irisierenden Roman erinnert an doppelt- oder mehrfachbelichtete Bilder. Und noch mehr ist jede Entgleisung, die der Text beschreibt, Teil einer verschachtelten Polyrhythmik, in der das Leben und Treiben rund um kongolesische Minen, koloniales Erbe, politische Umstürze, heillose Liebe ausgelegt wird. Da ist also Musik drin, und was für eine!
Fiston Mwanza Mujila. Tanz der Teufel. Zsolnay, 288 Seiten, 25,95 Euro.

© kk

Vermutlich passte die „Kopenhagener Trilogie“ von Tove Ditlevsen (1917-76) nicht in ihre Zeit. Andererseits: Bemerkenswert, dass diese formidable Geschichte weiblicher Selbstbehauptung erst in unseren Tagen ihren verdienten Platz in der Literaturgeschichte gefunden hat. „Gesichter“ schließt daran an, als monumentaler Bericht eines Zerfalls. Atemberaubende Literatur.
Tove Ditlevsen. Gesichter. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20,95 Euro.

© kk

Daniel Hadler

Corona-Vibes mit inzestuöser Anmutung: Elias und Ines sehen gern darüber hinweg, Halbgeschwister zu sein. Eine unmögliche Liebe, wie jede Liebe toxisch und daher lieblos wird in Gstreins dialogintensivem Roman, dessen Stärken im Subtilen des Schwebezustands liegen. Ein Buch, das Beziehungen abklopft.
Norbert Gstrein. Vier Tage, drei Nächte. Hanser Verlag,
352 Seiten, 26,80 Euro.

© kk

Ein Buch, das klüger macht, nicht nur weil Marie Gamillscheg ihre Protagonistin Luise zur Zoologin mit dem Spezialgebiet Meerwalnuss-Quallen machte. Als Luise für ein Projekt nach Graz reisen muss, wird sie mit der Sprachlosigkeit ihrer Vater-Tochter-Beziehung konfrontiert. Ein Roman, in den man gerne eintaucht.
Marie Gamillscheg. Aufruhr der Meerestiere.
Luchterhand, 304 Seiten, 22,70 Euro.

© kk

Muss man sagen, der Simon Brenner ist schon ein Glückspilz. Wie ihn Wolf Haas in vertrauter sprachlicher Originalität in eine wilde Geschichte rund um einen Mistplatz reitet und wie der Fund von Leichenteilen in Müllwannen in eine rasante Tätersuche mündet, das enttäuscht die zahlreichen Brenner-Fans weder stilistisch noch inhaltlich.
Wolf Haas. Müll. Hoffmann und Campe, 286 Seiten, 24 Euro.

© kk

Spezialtipp

Der Prachtband „Prosaische Passionen“ ist die erste globale Sammlung von weiblicher Erzählkunst.

Es ist vielsagend und beschämend, dass die erste globale Prosasammlung von Autorinnen um und nach 1900 erst Ende des Jahres 2022 erscheint. Herausgegeben und mit einem erhellenden Nachwort von der Literaturwissenschafterin und FAZ-Redakteurin Sandra Kegel, enthält der optische und inhaltliche Prachtband 101 Erzählungen und Prosastücke von 101 Autorinnen aus 25 Sprachen, großteils in Neu- und Erstübersetzungen. So entstand ein umfassender und repräsentativer Gegenkanon zur patriarchalen literarischen Dominanz, denn: Ab 1900 ist Weltliteratur nicht mehr bloß ein Gruppenbild mit Dame.

Nur einige Namen aus dem famosen Autorinnenreigen: Ilse Aichinger, Djuna Barnes, Simone de Beauvoir, Tania Blixen, Colette, Marguerite Duras, Marieluise Fleißer, Natalia Ginzburg, Marlen Haushofer, Edith Wharton, Virginia Woolf, Marina Zwetajewa ...

Diese Anthologie versammelt den motivischen und stilistischen Reichtum weiblicher Erzählkunst. Aber obwohl diese Autorinnen Geschlechterklischees und Rollenbilder infrage stellten und die Grenzen des Sagbaren verschoben haben, drehen sich die Erzählungen nicht nur um „Frauenthemen“. Ganz im Gegenteil. Hier wird – aus weiblicher Sicht – die ganze Welt verhandelt. Pflichtlektüre für alle Geschlechter.
Bernd Melichar

Prosaische Passionen. Manesse, 916 Seiten, 41,20 Euro.

© kk