Im Superagentenportfolio gibt es ein paar Klassiker: zynisch-verbissen wie Daniel Craig als Bond, süffisant-charmant wie Pierce Brosnan ebenso als 007 oder auch streberhaft wie Tom Cruise in der Mission-Impossible-Reihe. Dieser leicht melancholische Blick, mit einer dezent meditativen Haltung auch im erbitterten Nahkampf, die ist im Agentengenre hingegen nicht sonderlich verbreitet. Wer, wenn nicht Ryan Gosling würde sich für die Rolle empfehlen oder vielleicht doch anders gesagt: Es ist, was du kriegst, wenn du Ryan Gosling engagierst. Er spielt im Action-Kracher „The Gray Man“ die Hauptrolle. Sein Name: Court Gentry alias Sierra Six, Agent einer geheimen CIA-Truppe. Aus dem Gefängnis rekrutiert, um die ganz harten Jungs um die Ecke zu bringen.

Bis beim CIA die Führungsriege wechselt und der Emporkömmling Denny Carmichael („Bridgerton“–Star Regé-Jean Page) mit Nachdruck seine eigenen Interessen verfolgt. Das wird schnell klar, als Sierra Six einen seiner Kollegen ausschalten soll. Keine große Überraschung, das Blatt wendet sich: Sierra Six wird vom Jäger zum Gejagten. Und wo einer flieht, muss ein anderer die Verfolgung aufnehmen: Chris Evans gibt als Lloyd Hansen den Schopenhauer zitierenden, eitlen Kopfgeldjäger-Freelancer, dessen teflonartige Oberflächlichkeit gleich so dahinflutscht. Mehr Tiefgang wäre bei dieser Rolle überflüssig. Ein witziger Gegenentwurf zu üblichen grantelnden Action-Grobianen.

Chris Evans als überdrehter Freelancer-Kopfgeldjäger
Chris Evans als überdrehter Freelancer-Kopfgeldjäger © (c) © 2022 Netflix, Inc.



Mehr als nur ein bissl mehr Tiefgang hätte man sich wohl für den Rest der Truppe wünschen können, aber dafür hat man tief in den Actionkoffer gegriffen, der ja mit Vorbildern üppig gefüllt ist. Mit dabei natürlich ein Hauch von Bond: Einmal um die ganze Welt, wie es uns gefällt – also von Bangkok über Berlin, Aserbaidschan, Kroatien, Prag und nicht zuletzt Wien. Sightseeing ist in Actionkrachern naturgemäß keine Option, hier wird überall scharf geschossen. Wer spätestens nicht bei drei zurückschießt, der hat Pech gehabt. Damit es ein bissl menschelt, muss Gentry zwischen all dem Kugelhagel noch eine gekidnappte Waise befreien.

Wem leicht schwindelig wird, der sollte es bleiben lassen. Das Tempo ist atemberaubend, die Kampf- und Fluchtszenen ausgedehnt und wer hier unbedingt auf Logik pocht, der hat schon verloren. Zu Luft und zu Land wird 129 Minuten lang geballert, was das Zeug hält. Die Russo-Brüder, Haus- und Hofregisseure der Avengers, lassen also gewaltig die Sau raus und damit ist nicht nur Lloyd Hansen gemeint. Der Blutzoll ist theoretisch hoch, aber praktisch nicht zu sehen. Dass Netflix mit kolportierten 200 Millionen Dollar der Filmwelt noch einen Actionkracher hinzufügt, ist kein Zufall, vielmehr ist es eine Ouvertüre. Sowohl James Bond, als auch Mission Impossible sind Goldesel. Eine erfolgreiche Gray-Man-Reihe wäre für den Streamer Gold wert und Romanautor Mark Greaney hätte Stoff genug. Eine, die sich zumindest ein Spin-off verdient hätte, ist Ana de Armas, die neben Ryan Gosling eine CIA-Agentin gibt, die hier nicht selten die erste Geige spielt.

Bewertung: ★ ★ ★ ☆ ☆

"The Gray Man" ist ab 22. Juli auf Netflix zu sehen

Regé-Jean Page und Ana de Armas
Regé-Jean Page und Ana de Armas © (c) © 2022 Netflix, Inc.