Allmählich wird der Generationswechsel bei den Meistern des Taktstocks unübersehbar, selbst beim so traditionsversessenen Wiener Neujahrskonzert. Die Mutis, Methas und Barenboims (diese drei Künstler leiteten das Konzert zusammengerechnet 15 Mal) müssen kürzer treten, wollen oder können sich den enormen Stress nicht mehr antun. Denn das Neujahrskonzert bedeutet Stress: Man muss im grellen Licht der Weltöffentlichkeit hochkonzentrierte Nervenarbeit leisten. Yannick Nézet-Séguin steht zwar nicht allein für den Generationenwechsel, immerhin haben mit Gustavo Dudamel und Andris Nelsons schon zwei jüngere Maestri das Neujahrskonzert geleitet, aber Nézet-Séguin steht wie kaum ein anderer seiner Zunft für eine neue Zeit.
Der heute 50-jährige Frankokanadier lebt offen schwul und ist seit 2021 mit dem Musiker Pierre Tourville verheiratet. Vor gut 20 Jahren hat seine Karriere begonnen, er hat diesseits und jenseits des Atlantiks Spitzenorchester geleitet, er ist ein Arbeitstier, aber kein strenger Orchesterdompteur, sondern ein charmanter, lebendiger Typ mit breitem Lächeln. Sein Aufstieg ging rasant wie manche seiner Interpretationen, 2018 wurde er musikalischer Direktor der Metropolitan Opera in New York, in Montréal hat man ihn gleich zum Chefdirigenten auf Lebenszeit ernannt. Kritik gibt es auch: Manche werfen ihm eine gewisse Unverbindlichkeit seines Musizierstils vor. Er ist dennoch überall wohlgelitten, auch bei den Wiener Philharmonikern, die mit Nézet-Séguin bereits zum vierten Mal seit zehn Jahren einen Debütanten zum Neujahrskonzert eingeladen haben: Auch ein Zeichen des Wandels.