Eigentlich entspricht Kamil Sazgetdinovs berufliche Laufbahn nicht der Norm. Wo andere Karrieren erst volle Fahrt aufnehmen, ist Sazgetdinov mit 25 Jahren bereits mit hohem Tempo unterwegs. Gerade einmal einen Monat arbeitet der gebürtige Russe als Fahrzeugtechniker für Betriebe wie die ÖBB oder die Voestalpine AG in Österreich. Zwei Jahre lang entwickelte er in Deutschland Fahrzeugsoftware.

Natürlich greift diese Bezeichnung seines Forschungsfeldes viel zu kurz. Der Lebenslauf des hoch qualifizierten Technikers liest sich auf den ersten Blick irgendwie wie eine Stephen-Haw­king-Theorie – man glaubt es kaum. Das weiß Sazgetdinov auch. Spricht man ihn auf seine Tätigkeit an der Technischen Universität Graz an, so übt er sich in diplomatisch-zurückhaltenden Erklärungen. Höflich und auf Englisch, auch wenn er sehr gut Deutsch spricht, was der Russe jedoch bescheiden abstreitet. „Ich arbeite daran, Züge und Autos sicherer und besser zu machen“, betont der 25-jährige Russe. Gestartet hat Kamil Sazgetdinov seinen Höhenflug an der Universität Kasan, wo einst sein Großvater das Überschallflugzeug und Con­corde-Pendant TU-144 entwarf. „Normalerweise wollen Burschen ja immer Feuerwehrmänner werden. Dafür war ich leider zu klein. Deshalb wollte ich immer in die Fußstapfen meines Großvaters treten“, erinnert sich Sazgetdinov, der zwar nicht an der Realisierung von neuen Überschallflugzeugen arbeitet, sehr wohl aber an Fahrdynamikregelungen und Steuerungssystemen von Zügen und Automobilen.

Zwischen 2017 und 2018 war er unter anderem auch für Daimler tätig. Bis heute ist er übrigens nebenbei Leiter des Studentenrates der TU Kasan und Ilmenau. Mit einer rein technischen Ausbildung gab er sich dennoch nicht zufrieden. Seine Berufsperspektiven wollte er wie in einer 3D-Ansicht am Computer von allen Seiten auch inhalt­lich beleuchten.

„Das Hauptproblem von gelernten Technikern ist, dass sie ihre Umgebung vergessen. Heutzutage brauchst du viel mehr. Du musst managen können und die Anliegen der Bevölkerung nachvollziehen.“ Neben der Fahrzeugtechnik studierte Sazgetdinov deshalb auch erfolgreich Internationale Beziehungen.

Dass dieses Studium zwar im Geschäftsleben, nicht aber im Alltag weiterhilft, lässt der Facharbeiter bei genauerem Hinhören von sich aus anklingen. Er sei sehr froh, in Österreich und Graz eine Plattform wie jene des Club International gefunden zu haben. Die in Kooperation mit der Wirtschaftskammer, der Industriellenvereinigung und der Stadt Graz ins Leben gerufene Initiative sieht sich als Service- und Anlaufstelle für Fachkräfte aus aller Welt. Unter der Leitung von Veronika Wolf bietet der „CINT“ langfristige Begleitung und Unterstützung beim Zuzug an. In einer beschleunigten und globalisierten Wirtschaftswelt möchte Veronika Wolf das Persönliche betonen. „Wir helfen bei der Wohnungssuche, veranstalten Freizeitausflüge, damit neue Freundschaften und Kontakte geknüpft werden können, und kümmern uns sogar um Hochzeiten“, so Wolf. Die Chefin empfängt einen Großteil ihrer Klienten (650 allein im Jahre 2019) aus über 76 Nationen persönlich. „Besonders viele Fachkräfte kommen derzeit aus Indien und Brasilien zu uns“, analysiert die Club- International-Geschäftsführerin. „Ich mag das Wort Integration eigentlich weniger, aber ich glaube, der soziale Wohlfühlfaktor ist essenziell für eine Karriere dieser Art“, so Wolf.

Besonders schwierig sei es laut Sazgetdinov in Deutschland gewesen. „Das Gesprächsklima dort war wahnsinnig trocken und formell. Da fühlt man sich schnell alleine. Der Club International in Graz hat mir da sehr weitergeholfen“, schildert der Techniker. Der Frage, worauf man für so eine Bilderbuchkarriere mit 25 verzichten müsse, weicht Sazgetdinov aus. Wie ein Aufprallsensor im Auto aktiviert der Russe dabei den Airbag in seinen Ausführungen. Ganz beiläufig erwähnt er, dass er seine Eltern seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat.
„Die Balance auf deinem Karriereweg zu halten, ist eine fragile Angelegenheit. Aber natürlich musst du Opfer bringen. Wenn wir versuchen würden, alle Lebensbereiche miteinander zu vereinen, würden wir scheitern“, erklärt Sazgetdinov. Neben seiner Leidenschaft, der Wissenschaft und Menschen mit neuen Technologien zu dienen, musiziert der 25-Jährige zum Ausgleich für sein Leben gern. Seine Liebe zur Musik erweckte seine Mutter, die in Russland als Musiklehrerin arbeitet. Später lernte er, das Saxofon zu spielen. Dem Ausgleich, diesen abgedroschenen, aber umso wichtigeren Schlüsselbegriff, misst Sazgetdinov großen Wert bei. Sein Karrieretipp lautet: „Es muss Zeit für Tätigkeiten bleiben, die einzig und alleine dir selbst gelten. In meinem Fall ist es die Musik.

In diesem Bereich geht es nur um mich und meinen Ausdruck.“ Ehe der Fachtechniker aber der Muße zu viel Aufmerksamkeit schenkt, nennt er einen direkten Zusammenhang zwischen der Musik und der Karriere: „Die Rolling Stones waren deshalb so erfolgreich, weil sie sich voll und ganz auf die Musik konzentrieren konnten, während Manager und Techniker sich um den Rest kümmerten.“

Mit diesem Fokus lebt Kamil Sazgetdinov konsequent, wie es scheint. Gerade schreibt er an seiner Doktorarbeit. Wohin es ihn in Zukunft treiben könnte, weiß er noch nicht. „You can’t always get what you want“ von den Rolling Stones spielt es nicht. Viel eher würde sein Song ein altes afrikanisches Sprichwort vertonen:
„Tomorrow is pregnant, who knows what it will deliver“, also: „Die Zukunft ist schwanger. Keiner weiß, was sie für uns bereithält.“