Das Vorhaben ist seit vielen Jahren bekannt und fast ebenso lang gibt es Kritik daran. Der Tiroler Landesenergieversorger Tiwag plant einen gewaltigen Ausbau des Speicherkraftwerks Kaunertal und will dafür unter anderem einen neuen Stausee errichten, der sich aus den Flüssen oberhalb des Ötztals speisen soll. Umweltorganisationen fürchten einen ökologischen Super-GAU, derzeit läuft für das Projekt die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP). Auch die Alpenschutzkommission Cipra bringt sich nun gegen das Vorhaben in Stellung und ortet Unvereinbarkeiten mit Teilen der Alpenkonvention.

Die Argumente, die für und gegen das Energieprojekt vorgebracht werden, sind in Teilen ident. In beiden Fällen wird der Klimawandel mit seinen Auswirkungen ins Treffen geführt. Tiwag und Tiroler Landesregierung verweisen auf die Notwendigkeit des weiteren Ausbaus der Wasserkraft, um von den fossilen Energieträgern loszukommen. Im Endausbau, der freilich erst in den 2030er-Jahren realistisch ist, soll der gesamte Kraftwerkskomplex laut Tiwag pro Jahr zusätzlich 787 Gigawattstunden Strom aus natürlichen Zuflüssen erzeugen. Die Umweltschutzorganisation WWF, die sich bereits im Frühjahr gemeinsam mit 40 weiteren Organisationen und Forschern in der "Kaunertal Erklärung" für einen Projektstopp starkgemacht hat, befürchtet dagegen, dass die Ausbaupläne die lokalen Folgen des Klimawandels weiter verschärfen. "Wir brauchen resiliente, gesunde Ökosysteme wie Moore und Wälder, um die Klimakrise abzufedern", sagt die stellvertretende WWF-Geschäftsführerin Hanna Simons. "Das Kaunertalprojekt bewirkt genau das Gegenteil."

Begeht Tirol eine Vertragsverletzung?

Kaspar Schuler, Geschäftsführer der Alpenschutzkommission CIPRA, zu deren europaweit mehr als 100 Mitgliedern auch die österreichischen Bundesländer zählen, hält das Projekt nach einer Prüfung ebenfalls für nicht verträglich. "Ich orte eine klare Vertragsverletzung der Alpenkonvention. Diese sieht unter anderem vor, die letzten erhaltenen, natürlichen Flussläufe zu schützen." Zudem gewinne Tirol schon heute 95,5 Prozent seines Stroms aus der Wasserkraft. Diese Erzeugungsmenge wie geplant bis 2050 um die Hälfte zu steigern, sei nicht nachhaltig. "Es ist nicht sinnvoll, alles auf eine Technologie zu setzen", sagt Schuler. Das Projekt richte unverhältnismäßig großen Schaden an.

Der Ausbau des Speicherkraftwerks sieht unter anderem vor, bis zu 80 Prozent des Wassers aus dem Ötztal zu entnehmen und es über eine Zuleitung zwei Täler weiter über den bestehenden Gepatsch Stausee im Kaunertal in einen neuen Speichersee im Platzertal einzubringen. Gefasst werden soll das Wasser in der Venter und der Gurgler Ache, deren Zusammenfluss schließlich die Ötztaler Ache bildet. Das Problem, das Naturschützer orten: Das Ötztal ist bereits heute eines der niederschlagsärmsten Täler Tirols. Zudem würden durch den neuen Stausee unter anderem elf Hektar wertvoller Moorflächen überflutet. Entstehen sollen im Zuge des Projekts außerdem weitere Kraftwerke am Ausgang des Kaunertals sowie in Imst und Haiming.

Sparen, Wind- und Solarkraft als Alternative

Schuler wie auch Simons fordern ein sofortiges Projekt-Aus. "Es ist mir unverständlich, wie das Land und die Tiwag an einem Vorhaben festhalten können, das so aus der Zeit gefallen ist", sagt Simons, die stattdessen Energiesparmaßnahmen und einen Ausbau der Fotovoltaik und der Windkraft in Tirol fordert. Bisher steht im Bundesland noch kein einziges Windrad.

Scharf reagiert auf die Kritik Tirols ÖVP-Obmann und Landeshauptmannkandidat Anton Mattle. Mit der "sturen Haltung" gegen den Ausbau der Wasserkraft befeuere der WWF nur Abhängigkeiten aus dem Ausland und verzögere den Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl. Der Wasserkraftausbau sei für ihn "nicht verhandelbar". Ohne die Nutzung dieses Potenzials sei die Energiewende nicht zu schaffen.

Diametral entgegengesetzt die Reaktion des Koalitionspartners Grüne. Die fachliche Beurteilung von Cipra und dem WWF sei "ernst zu nehmen.", meinte Landtagswahl-Listenzweite Petra Wohlfahrtstätter. "Wir waren dem Kraftwerk Kaunertal gegenüber immer kritisch und ein weiteres Mal bestätigt sich, dass dieses Kraftwerk nicht der Zielsetzung des "ökologisch vertretbaren" Ausbaus entspricht", so Wohlfahrtstätter in einer Aussendung. Einmal mehr pochten die Grünen auf einen raschen und konsequenten Ausbau von Fotovoltaik (PV) in Tirol und versetzten dem Koalitionspartner einen Seitenhieb: "Wäre der PV Ausbau von der ÖVP mit freundlicher Unterstützung der Tiwag nicht über Jahre verschleppt und blockiert worden, wären wir heute nicht in der misslichen Lage von russischem Gas derart abhängig zu sein."