Nach der coronabedingten Lähmung platzen die gesellschaftlichen Haarrisse zu Konfliktspalten auf. So mehren sich die Stimmen derer, die sagen, die politische Führung habe „falsch“ entschieden, unangemessen eingeschränkt, Güter schlecht oder gar nicht abgewogen. Gekontert wird das mit „Nachher ist man immer schlauer“ – ein Satz, den man in Endlosschleife hören wird. All diese Aussagen illustrieren eine Sehnsucht, die sich auf paradoxe Weise mit der Zufälligkeit paart: Alles könnte auch anders sein. Es sind jedoch Gedankenfallen, die den Kern von Führung und Lebensführung verkennen.

Zunächst ist zu unterscheiden zwischen Entscheidung und Wahl. Eine Wahl basiert auf Fakten, Tatsachen, Daten. Man hat genug Zeit, Ratgeber zu lesen, Experten zu befragen und unterschiedliche Perspektiven einzuholen. Insofern ist eine Wahl begründungsfähig und entsprechend zu rechtfertigen. Die Auswahl der Experten kann vorurteilsgeprägt sein, die Messung ungenau, die Risiken fehlkalkuliert. Zudem ist die Wahl geronnene Vergangenheit, und vergangene Erfolge sind Lernbehinderungen. Aber eine Wahl kann dennoch richtig oder falsch sein. Für sie gilt, dass man hinterher wissen kann, was man vorher hätte wissen müssen. Man fährt besser angeschnallt ins nächste Auto.

Anders die Entscheidung: Eine Gruppe von Menschen, fliehend, hinter ihr ein Säbelzahntiger, vor ihr eine Weggabelung; die Wissenschaft spricht von „Bifurkation“. Man kann rechts und links ein paar Meter in die Wege hineinsehen, dann biegen sie ab ins Unbekannte. Wohin flüchten? Einige rufen: „Nach rechts!“ Andere: „Nach links!“ Stillstand droht. Die Zeit drängt. Was tun?

Das ist die Situation, die nach Entscheidung ruft. Eine Entscheidung kommuniziert, 1. dass entschieden wurde, 2. wer entschieden hat, 3. wofür entschieden und 4. wogegen entschieden wurde. Gerade die letzte Kommunikation ist die Startrampe für postdezisionale Konflikte. Denn die abgelehnte Alternative läuft als Zweifel immer mit.

In der Politik: Hätte man nicht doch den alternativen Weg einschlagen sollen? In Unternehmen: Hätten wir nicht früher in eine innovative Technologie investieren sollen? Im Privaten: Hätte ich nicht besser Monika geheiratet?

Die Grundannahme des Zweifels ist, dass die Konsequenzen einer Entscheidung vorhersehbar seien. Und genau das sind sie nicht. Die Faktenlage ist zu dünn, um ein Risiko zu kalkulieren. Vergangene Erfahrungen helfen nicht für eine ungewisse Zukunft. Es bleibt keine Zeit, Expertenrat einzuholen. Und wenn doch, repräsentieren die Experten nicht eine universale Vernunft, sondern unterschiedliche Rationalitäten: Ökonomen bewerten die Lage anders als Mediziner, Theologen anders als Juristen. Selbst wenn sie übereinstimmen, sitzen sie in der Falle ihrer eigenen Empirie: Das Fremde wird auf das zu Verstehende, auf Ähnliches reduziert und damit die Fremdheit des Phänomens negiert.

Wir haben es bei Entscheidungen also nicht mit einer Monorationalität zu tun, die auf einer allgemein nachvollziehbaren Vernunft sattelt (im Sinne von Habermas), auch nicht mit Multirationalität (die im Sinne Buhmanns verschiedene gesellschaftliche Subsysteme repräsentiert), sondern mit gar keiner Rationalität. Da ist der Vorwurf der Willkür nie weit.

Da der Selbstberuhigungsbedarf sozialer Systeme – erzeugt von Öffentlichkeit, Mitarbeitern oder Investoren – groß ist, versucht man, die Entscheidung mit Beraterhilfe in Richtung Wahl zu verschieben. Gelingt das nicht, bewältigt man die schwer erträgliche Situation mit Abwehrmechanismen: mit Bauchgefühl, Würfeln, Münzenwerfen, Streichholzziehen, Kaffeesatzlesen, Glücksrad, Astrologie. Das ist das Einfallstor für Verschwörungstheorien aller Art. Da der Mensch ohne ein Warum nicht leben kann, dieses aber von der Entscheidungssituation verweigert wird, steuern dunkle Mächte im Hintergrund.

Die Entscheidung ist entsprechend ungeliebt. Sprachbildlich steht man zwischen Pest und Cholera, Skylla und Charybdis, gleicht Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen zu verhungern droht. Dabei könnte man sich trösten: Außer in Extremfällen kann eine Entscheidung nicht falsch sein. Aber auch nicht richtig. Es gibt kein Paralleluniversum, in dem man eine alternative Entscheidung probeweise durchspielen könnte. Man muss durch den Feuerreif des Zweifels springen, ohne zu wissen, wo man landet. Mithin gibt es keine „schwierigen“ (also auch keine „einfachen“) Entscheidungen – Entscheidungen sind immer schwierig, sonst wären sie keine.

Insofern ist der Satz „Nachher ist man immer schlauer“ im Unwesentlichen richtig, im Wesentlichen falsch. Richtig: Man weiß erst nach einer Entscheidung, was man entschieden hat. Falsch: Die Alternative kennt man nicht und wird sie nie kennenlernen. Das Gegenteil zu behaupten, ist ähnlich intelligent, wie Sterbende zu befragen, was sie in ihrem Leben hätten anders machen sollen. Gar nichts hätten sie geändert – sonst hätten sie es getan. Deshalb kann man bei einer Entscheidung auch keinen „Fehler“ machen. Ein Fehler setzt einen als „richtig“ definierten Zustand (Sollwert) voraus, von dem der Istwert abweicht. Von einem Fehler kann man nur bei einer Wahl sprechen, bei der man Sorgfaltspflicht einklagen kann. Niemand würde sich in das Flugzeug einer Airline setzen, in deren Leitlinien es heißt: „Bei uns darf man Fehler machen.“ In der Coronakrise konnte man keinen Fehler machen – weil er bei einer Entscheidung definitorisch ausgeschlossen ist.

Die Verwechslung von Entscheidung und Wahl und der daraus resultierende Rechtfertigungsdruck bewirken, dass Führungskräfte zögern, viel Zeit verstreichen lassen und bisweilen, dass gar nicht entschieden wird. Auch die anfängliche Unschlüssigkeit der Politik in der Krise (weil man wähnte, wählen zu können) und die folgenden massiven Freiheitsbeschränkungen (weil man letztlich doch entscheiden musste) resultieren aus diesen Sprach- und Denkverwirrungen. Man glaubte, übertriebene Vorsicht sei leichter zu rechtfertigen als Zurückhaltung. Damit erklärt sich auch der Nachahmungsdrang: Wenn man schnell entscheiden muss und (irrtümlich) meint, Fehler vermeiden zu können, greift man gerne zu „one size fits all“ – ohne zu prüfen, ob das zur eigenen Problemlage passt.

Der Ausnahmezustand hat das Kerngeschäft von Führung freigelegt. Und mit ihm die Entscheidung. Nicht die Wahl – für Letztere könnte man auch einen Algorithmus zum Chef machen. Es braucht vielmehr Menschen, die das Paradox schuldloser Verschuldung auf sich nehmen, das Kierkegaard ins Spiel brachte. Die den Widerstand aushalten, der jeder Führung entgegenschlägt, die ihren Job macht. Sollte sich der eingeschlagene Weg als holprig, gar als kaum begehbar herausstellen, kann man nur neu entscheiden.

Das klar zu sagen, trauen sich nur wenige. Denn Führungskräfte gelten als Menschen, die die „richtigen“ Entscheidungen treffen. Diese Erwartung können sie jedoch im strengen Sinne nicht erfüllen. Deshalb tun sie so, „als ob“ sie es wüssten. Das ist aber nicht das „als ob“ des Lügners, sondern sie „gelten als“ Instanz, die privilegierten Zugang zur Richtigkeit hat. Damit verbunden ist ihre Lizenz zur Nachträglichkeit. Im besten Fall erklären sie im Nachhinein zur Strategie, was sich zuvor aus Zufall ereignet hat.

Unter normalen Umständen wären die politischen Verordnungen in der Coronakrise zu kritisieren gewesen – wenn man hätte wählen können. Und man kann der Politik mit Recht vorwerfen, sie habe Warnungen überhört und Vorbereitungen unterlassen, weshalb man die genuine Situation der Entscheidung erst erzeugt habe. Aber man wird ihr nicht vorwerfen können, „falsch“ entschieden zu haben. Wir sind auch nachher nicht schlauer. Schon gar nicht müssen wir verzeihen.

Was entscheidende Führung braucht, ist Glück. Oder wenigstens die Abwesenheit von Pech.