"Isoliert die Alten“, lautet eine kaum verhüllt vorgetragene Empfehlung zur Bekämpfung von Covid-19, damit sich „die Kräftigen durchseuchen lassen können“ und so der Infarkt der Volkswirtschaft abgewendet werde. Abgesehen davon, dass das allein nichts nützen würde, denn es können auch Junge ernsthaft erkranken, ist es aber nicht so herzlos brutal, wie es klingen mag. Vernünftige Alte haben sich schon längst selbst isoliert, weil sie überleben wollen und es nicht darauf ankommen lassen möchten, dass das letzte Beatmungsgerät gerade vor ihnen für einen Jüngeren gebraucht wurde.

Am 15. März, dem Tag bevor die Ausgangsbeschränkungen verhängt worden sind, haben uns deshalb unsere Kinder von Graz nach Wien beordert, wo sie uns versorgen können. Da wir mit 78 und 80 zur Hochrisikogruppe gehören, gehen wir in kein Geschäft. Die Einkäufe erledigen die Kinder, die Enkelkinder bringen die Taschen mit dem Roller vorbei und stellen sie uns vor die Tür, ohne dass wir einander begegnen. Nur einmal war ich in der Apotheke und in einer Bäckerei mit Gassenverkauf, wo ich mich gewundert habe, dass die Verkäuferin keine Gesichtsmaske trug und über die Semmeln hinweg auf mich hätte husten können.

Wir tun uns nicht leid, nicht wegen der Separation und brauchen keine Ratschläge von Psychologen oder Seelentröstern. In unserem Alter hat man gelernt, mit weniger Kontakten und gesellschaftlichem Leben auszukommen. Fünf Wochen nur zu zweit, wahrscheinlich werden es noch mehr werden, halten wir nach 51 Jahren Ehe aus. Dass wir die Enkelkinder eine Zeit lang nicht sehen, schadet weder ihnen noch uns. Auch in solchen Zeiten hat ein älteres Paar dieselbe Aufgabe wie immer: das Gespräch aufrechtzuerhalten, sich nicht an Kleinigkeiten aufzureiben, den Alltag strukturiert und diszipliniert zu gestalten, aber auch seine Gewohnheiten nicht zu einem Gefängnis werden zu lassen.

Selbstverständlich telefonieren wir mehr als sonst und lernen erst jetzt mit den Smartphones, die wir seit einiger Zeit besitzen, besser umzugehen. Aber das meiste, was in Zeiten wie diesen über die WhatsApp-Gruppen verbreitet wird, ist nicht so lustig, geschweige denn so wichtig, wie die Absender meinen. Auch das Homeoffice ist keine neue Erfahrung. Seit der Pensionierung vor dreizehn Jahren arbeite ich daheim. Freilich kann man journalistische Arbeit auf Dauer nicht nur per Telefon und ohne unmittelbare Kontakte und persönliche Begegnungen bestreiten. Selbst eine leere Stadt kann man nur beschreiben, wenn man sie gesehen hat. Den Zeitungen ist man im Übrigen dankbar für jeden Beitrag, der nicht von Covid-19 handelt.

Da wir jeden Tag einen längeren Spaziergang machen müssen, sind wir betroffen von einem Streit, der nun beigelegt wurde, aber die realen politischen Verhältnisse in Österreich auf das Schönste vorgeführt hat: Der rote Bürgermeister und die grüne Vizebürgermeisterin von Wien forderten von den Bundesgärten, ihre Gärten und Parks wieder zu öffnen, die sie sofort nach der Ausgangssperre geschlossen hatten. Es dauerte drei Wochen, bis die Landwirtschaftsministerin nachgab.

Recht haben beide: Die Stadt braucht mehr freie Flächen zum Spazierengehen, wenn das Wetter wärmer wird. Wenn die Menschen nicht diszipliniert genug sind, ist es besser, nicht noch weitere Räume zu öffnen, meinte die Ministerin. Jedenfalls könnten wir froh sein, wenn wir in der Krise keine größeren Probleme hätten als die Öffnung von Parks. Die Aufgeregtheit, mit der die Sache in Wien abgehandelt wird, ist auch verständlich: Endlich ist etwas gefunden, wofür man die Regierung kritisieren kann. Das ist ein durchaus verständlicher Reflex im allgemeinen Wohlwollen, dessen sich die Regierung – zu Recht – erfreut.

Das „Pressefoyer“, die Kultveranstaltung für die innenpolitischen Journalisten nach dem allwöchentlichen Ministerrat, ist abgelöst worden durch die täglichen Pressekonferenzen im Stundentakt der vier Hauptakteure und der einzelnen Minister. Die nahezu pausenlose Anspannung, ja, auch die Last der Verantwortung ist Kanzler und Vizekanzler, Gesundheits- und Innenminister schon deutlich anzusehen. Sie hat Spuren in den Gesichtern hinterlassen.

Nun also die Maskenpflicht. Gut, dass Kurz und die Minister mit gutem Beispiel vorangehen. So ein großer Kulturbruch („Masken sind für unsere Kultur etwas Fremdes“), wie der Kanzler meinte, ist das also doch nicht. Man erkennt ja immer noch, wer hinter der Maske steckt. Die Maske vor dem Mund ist eine simple medizinisch-prophylaktische Maßnahme und keine Verschleierung, an die Kurz wohl gedacht hat. Von Maskierung oder Maskerade zu reden, ist auf jeden Fall ziemlich unpassend angesichts des Ernsts der Sache.

Auch die Kleine Zeitung hat das Bild gebracht, das wie kein anderes den Ausnahmezustand, in dem sich die Welt befindet, illustrieren sollte: der Papst mutterseelenallein in der Dämmerung im Regen unter einem Dach (früher wäre es ein Baldachin gewesen) auf dem völlig menschenleeren Petersplatz. In Wirklichkeit beschreibt es den Normalzustand der Welt. Der Pontifex ist nicht einsam, er braucht nicht Zehntausende auf dem Platz vor sich, um gehört zu werden. Er ist in der ganzen Welt präsent ohne einen einzigen unmittelbaren Zuhörer. Der Lichtschein unter dem Dach lädt uns geradezu in sein Arbeitszimmer ein. Die digitale Welt braucht die leibhaftige Anwesenheit nicht mehr, um Verbindung, Nähe und Unmittelbarkeit herzustellen.

Um Nähe und Unmittelbarkeit zu ihren Gläubigen ringt in diesen Tagen auch die Kirche in Österreich. Gerade in der Fasten- und Osterzeit trifft sie das Verbot von Gottesdiensten besonders hart. Sie kann das Wertvollste, das sie hat, die Liturgie und die Sakramente, nur unter sehr verfremdenden Umständen vollziehen. Damit hat sie sich schnell abgefunden, manche Katholiken meinen, etwas zu schnell. Sie erfand die Gottesdienste ohne Gläubige, die über die Medien zu verfolgen sind. Die theologischen Einwände dagegen sind eher rechthaberisch. Es gab keine ernsthafte Alternative dazu. So kühn wie im katholischen New York, wo die Priester auf der Straße die Beichte abnehmen, ist sie in Österreich nicht.

Wenn diese Krise schon jetzt etwas Gutes hervorgebracht hat, dann ist es eine neue Wertschätzung von Arbeit und Wirtschaft. Jetzt kommt plötzlich allen zum Bewusstsein, was passiert, wenn wir die Friseuse von nebenan, den Installateur, der zur Stelle ist, wenn man ihn braucht, das Kaffeehaus um die Ecke nicht mehr haben. Und wenn der deutsche Autokonzern, der Bleche aus Oberösterreich verarbeitet und Hightech aus der Steiermark zugeliefert bekommt, ins Straucheln gerät.

In den letzten Jahren ist es üblich geworden, nicht zuletzt auch in den Schulen und in manchen ORF-Radiosendungen „Die Wirtschaft“ oder „Die Konzerne“ als Schimpfwort zu gebrauchen. Das sollte wohl ein Ende haben, wenn mit einem Schlag 200.000 Menschen ihre Arbeit verlieren, weil die Unternehmen, „die Wirtschaft“, ihnen keine mehr geben können. Niemand hat das übrigens besser begriffen als die Gewerkschaft. Plötzlich ist es auch kein Tabu mehr, davon zu reden, verlorene Arbeitszeit oder versäumten Schulunterricht später einzubringen.

Hans Winkler lebt als Journalist in Wien.