Nach drei Wochen Corona-Ausnahmezustand im Land sind wir im neuen „Normal“ angekommen. Der Weg in die Arbeit führt nicht mehr über Autobahnen und U-Bahn-Gleise, sondern vom Bett zum Schreib- oder Esstisch. Der Anblick von unfrisierten Kolleginnen und Kollegen vor ihren Bücherregalen und Wohnlandschaften hat ebenso an Neuigkeitswert verloren wie das Arbeiten im Pyjama. Das Gefühl des eingesperrt Seins wird mit dem Argument verdrängt, dass man sich sein Gefängnis und die darin stehenden Möbel wenigstens selbst ausgesucht hat. 

Wer sich seine Haftanstalt derzeit mit Kindern teilt, für den fühlt sich der Alltag manchmal wie das Abbüßen aller bisherigen Sünden an. Paare ohne Kinder „dürfen“ jetzt ein für alle Mal klären, wer „immer“ und „nie“ bestimmte Dinge tut oder unterlässt. Singles finden sich bei der Suche nach einem Partner oder kurzweiligem Vergnügen frustrierenderweise in Jane Austen ähnliche Zeiten versetzt, als einem ersten Treffen wochenlange schriftliche Korrespondenz vorausgegangen war. Vielleicht werden bald wieder Haarlocken und Foto-Amulette verschickt.

Wo ist all die Energie hin?

Und trotzdem scheint das nicht zur Gänze zu funktionieren mit dem Gewöhnen an das neue „Normal“. Obwohl man sich in Isolationszeiten geistig wie körperlich um ein Vielfaches weniger bewegt, scheint bei einem Großteil am Ende des Tages trotzdem kaum noch Energie vorhanden zu sein. So mancher schläft deutlich länger als sonst, um dann noch müder und erschöpfter aufzuwachen.

Ein Phänomen, das man aus der Trauma-Bewältigung kennt. Auch, wenn sich das auf der Couch Gammeln für viele nicht danach anfühlt, sorgt die aktuell ungewisse Situation häufig dafür, dass der Körper unter konstantem Stress ist. Und deshalb wirft er quasi das Notstromaggregat an, um sich ganz auf den Abbau dieses Stresses konzentrieren zu können. Mit diesem Not-Betrieb geht jeder anders um. Manche essen und/oder trinken deutlich mehr als sonst oder verlieren sich in den Untiefen von Netflix, wieder andere putzen energisch oder turnen unermüdlich Fitnessvideos im Internet nach.

Kämpfen, Flüchten, Totstellen

Dass wir nun vielfach körperlich auf „Sparflamme“ kochen, kann aber auch psychologisch bzw. biologisch erklärt werden. Die Frage „Kämpfen oder Flüchten“, die uns Säugetieren in Gefahrensituationen seit jeher den Fortbestand gesichert hat, ist in Corona-Zeiten plötzlich obsolet. Denn beides ist keine Option. Wir können den mikroskopisch kleinen Virus nicht mit schierer Muskelkraft besiegen. Die Flucht scheint ob der zahlreichen Ansteckungsmöglichkeiten zwar die bessere, aber eine langfristig ebenfalls wenig erfolgsversprechende Option zu sein.

In solch aussichtslosen Situationen entscheiden sich Säugetiere, wie der britische Psychologe Jeffrey Alan Gray schon wusste, häufig für Option drei: Totstellen - aus Angst und in der Hoffnung, die Bestie vor ihnen verliert das Interesse und zieht von dannen. In unserem Fall trägt sie den klingenden Namen „Covid-19“.

Experte: "Wir trauern"

Neben den körperlichen Folgen, die diese Zeiten für manche haben, empfinden viele noch etwas anderes. Ein dumpfes Gefühl des Unbehagens, das man nur schwer beschreiben kann. David Kessler hat eine Beschreibung dafür gefunden: Trauer. In einem Interview mit dem Harvard Business Review Magazin spricht der amerikanische Autor und anerkannte Experte für Trauer von diversen Formen eben dieser, die die Menschen jetzt spüren.

„Der Verlust von Normalität, die Angst vor wirtschaftlichen Folgen und der Verlust von menschlicher Verbindung - das alles trifft uns und wir trauern darum. Und zwar alle gemeinsam. Und an diese kollektive Trauer, die in der Luft liegt, sind wir nicht gewöhnt.“ Kessler spricht dabei auch von „vorausschauender Trauer“. Weil wir nicht wissen, wie sich die Dinge genau verändern werden, trauen wir und fürchten uns vor dem, was kommt. 

Gehirn als Gegenspieler

Unser Gehirn macht uns die Sache dabei nicht leichter. Es bestärkt uns in dieser Angst mit einer Art Foto-Galerie des Grauens. Schreckliche Vorstellungen von dem, was passieren könnte, flimmern vor unserem inneren Auge. Dabei handelt es sich schlicht um eine Art Sicherheitsmechanismus der Natur, um uns auf das Schlimmste vorzubereiten. 

Wenn wir uns also in Trauer befinden, läuft diese laut Kessler - genau wie beim Verlust eines geliebten Menschen - oft in Form von Stufen ab. „Es beginnt mit „Leugnen“: Dieser Virus wird uns nicht betreffen. Dann folgt „Ärger“: Ich werde gezwungen, zu hause zu bleiben und man nimmt mir meine Hobbys. Gefolgt von „Verhandeln“: Okay, wenn ich für zwei Wochen daheim bleibe, wird alles wieder wie vorher, richtig? Die nächste Stufe: „Trauer“: Ich weiß nicht, wann das alles enden wird. Und schlussendlich: „Akzeptanz“: Okay, das passiert gerade wirklich und ich muss einen Weg finden, damit umzugehen. Und dort wollen wir hin.“  

Ein Recht auf Trauer

Viele scheinen aktuell von der Verhandlungs- in die Trauerphase zu wechseln. Die anfangs noch lustigen Verabredungen mit digital anwesenden Freunden und analogem Wein können immer weniger über die Sehnsucht nach realem Kontakt hinwegtäuschen. Und die Faszination für den Anblick einer fast leeren Stadt ist zum schmerzhaften Sinnbild dafür geworden, dass alles anders ist. Das macht traurig - und wir haben ein Recht auf diese Trauer. Es zu benennen macht es greifbarer und vielleicht ein wenig leichter.

Weil jeder anders und anders schnell trauert, kann das auch in Zeiten der Distanz zu Spannungen im Familien- und Freundeskreis führen. Wenn die „Ach, das betrifft uns nicht“-Phase-Freundin auf den „Ich weiß nicht, wie das weitergehen soll“-Phasen-Freund trifft, kann so manches virtuelle Gespräch mit einem jähen Zuklappen des Laptops beendet werden. Verständnis für den Weg des anderen kann helfen, damit umzugehen. 

"Die Welt wird sich weiterdrehen"

Wie aber nun generell umgehen mit all dem Chaos und all der Trauer? Weil die Zukunft ungewiss scheint, empfiehlt Kessler eine Rückkehr in das Hier und Jetzt. „Jetzt gerade geht es dir gut, du hast Essen und du bist nicht krank. Und atme dabei ruhig ein und aus.“ Zudem empfiehlt der Experte ein Suchen nach Balance. „Wer an die schlechtmöglichsten Folgen denkt, muss sich dazu bringen, auch an die bestmöglichen denken. Und daran, dass sich die Welt weiterdrehen wird.“ Und das wird sie.