Georgios Kyritopoulos, 21, Student, spricht mit ruhiger Stimme, innerlich ist er aber zutiefst aufgewühlt."Ich bin dankbar dafür, dass ich am Leben bin. Zugleich bin ich unendlich traurig über den Tod so vieler Menschen. Mein Beileid gehört den Angehörigen. Ich will nur eines: die Schuldigen müssen bestraft werden", sagte er am Mittwoch in der Früh, nur wenige Stunden nach dem verheerendsten Zugunglück in der Geschichte Griechenlands. 

Wenige hatten solches Glück

Kyritopoulos hatte Glück im Unglück: Denn er saß im fünften Waggon und nicht weiter vorne im Intercity IC 62, der am Dienstagabend vom Athener Hauptbahnhof seine Fahrt in die 504 Kilometer nördlich gelegene Metropole Thessaloniki aufgenommen hatte. Es sollte eine Fahrt in den Massentod werden. Kurz nach 23 Uhr stieß der zu diesem Zeitpunkt mit rund 350 Passagieren besetzte Zug 135 Kilometer vor seinem Ziel unmittelbar vor dem Tempi-Tal unweit des berühmten Berges Olymp frontal mit einem entgegen kommenden Güterzug zusammen.

Dies ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit: Die gesamte Strecke von Athen nach Thessaloniki, die die zentrale und mit Abstand am stärksten frequentierte Zugstrecke in ganz Griechenland darstellt, verfügt über zwei Gleise. Bis zum fatalen Zusammenstoß fuhr der vom Süden mit hohem Tempo heranrauschende Intercity IC 62 aber zwölf Minuten auf dem von seiner Fahrtrichtung aus gesehenen linken, dem für ihn falschen Gleis. Der Güterzug, der in Nord-Süd-Richtung unterwegs war, benutzte hingegen das richtige Gleis.

Der Frontalcrash und ein sofort ausbrechendes Feuer ließen die ersten drei Waggons des geisterfahrenden Intercitys auf einen Schlag zu einer unförmigen Masse verschmelzen. Die griechische Feuerwehr, die mit 150 Einsatzkräften sowie vier Kränen vor Ort operierte, konnte daraus nur noch verkohlte Leichen bergen, falls dies überhaupt möglich war. 
Die Bergungsarbeiten stellten für die Rettungskräfte eine Herkulesaufgabe dar.

Die endgültige Zahl der Toten und Verletzten stand am Mittwoch noch nicht fest. Offiziellen Angaben zufolge seien mindestens 38 Personen getötet worden, weitere 85 Personen hätten sich Verletzungen zugezogen. Viele der Toten, darunter viele Studenten, die nach einem Feiertag von Südgriechenland zurück zu ihren Studienorten im Norden Griechenlands fuhren, konnten nur per DNA-Tests identifiziert werden. Beobachter gehen indessen davon aus, dass sich die Zahl der Opfer noch dramatisch erhöhen könnte.

Die Ursachenforschung war hierzulande bereits am Mittwochmorgen im vollen Gange. Übereinstimmenden Informationen und Angaben zufolge wird der Zugverkehr auf der gesamten Strecke von Athen nach Thessaloniki von Station zu Station manuell und per Funk geleitet. 
Konkret geben die Stationsleiter an den insgesamt elf Bahnhöfen auf der Route von Athen nach Thessaloniki ihre Anweisungen per Funk an die Lokführer weiter. Die Lokführer sind darauf unbedingt angewiesen, weil sie faktisch blind unterwegs sind: Es ist weder ein modernes elektronisches Leit- und Überwachungssystem in Betrieb noch funktionieren Ampeln, die bei Gefahr auf rot schalten könnten, um Züge zu stoppen. 

Das wurde dem Intercity IC 62 in der Nacht und beim hohen Tempo offenbar zum Verhängnis. Dabei ist das verheerende Zugunglück im Tempi-Tal eine Katastrophe mit Ansage. Schon 2019 hatte die EU-Kommission Griechenland wegen mangelnder Sicherheit im Zugverkehr zu einer Geldstrafe in Höhe von zwei Millionen Euro verdonnert, im April 2022 warnte ein Experte in einem Brief vor Zugunglücken, wie der private Athener Fernsehsender "Open TV" am Mittwoch enthüllte. 

Pannen nach Privatisierung

Alles stieß in Athen auf taube Ohren. Dabei standen die griechischen Bahnen (Hellenic Train) schon lange im Fokus. Hellenic Train wurde im Oktober 2017 im Zuge der griechischen Staatsschuldenkrise auf Druck von Hellas' öffentlichen Kreditgebern EU, EZB und IWF an die italienischen Staatsbahnen (Ferrovie dello State Italiano Group) verhökert - für nur 45 Millionen Euro. 

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Seither reißen die Probleme mit Hellenic Train nicht ab. Aufsehen erregte zuletzt der Erwerb der legendär schlechten ETR 470 Cisalpino-Züge, auch Pendolino genannt, von den Schweizer Bundesbahnen SBB. Er hatte ab Mitte der 90er-Jahre vornehmlich die Schweiz mit Italien verbunden, bevor die SBB die allermeisten Pendolinos auf den Schrottplatz beförderte. Der damalige SBB-Chef sprach von einem "Horror", der ein Ende gefunden hatte. Doch nicht alle Züge landeten auf dem Schrottplatz. Die staatliche Ferrovie dello Stato Italiane schickte fünf verbliebene Pendolinos nach Griechenland. In der Schweiz gab es mehrere Vorfälle, bei denen die Züge in Brand gerieten. Der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel sagte:"Zu einem bestimmten Zeitpunkt betrafen 50 Prozent der Beschwerden, die wir erhielten, den Pendolino, obwohl er nur 1 Prozent des Bahnverkehrs bediente." In Richtung Griechenland sagte Weibel damals: "Zum Pendolino kann ich nur sagen: viel Glück!"

Noch drei weitere Vorfälle

Nur wenige Stunden vor dem desaströsen Zugunglück im Tempi-Tal mit seinen vielen Toten waren die elektrischen Leitungen über einem Zug von Hellenic Train im Bahnhof Paleofarsalos auf der Strecke Athen nach Thessaloniki explodiert.  Die Explosion hatte zur Folge, dass das 25.000-Volt-Kabel durchtrennt wurde und auf den Zug fiel. Die rund 450 Fahrgäste mussten mit dem Bus nach Thessaloniki weiterfahren, der Zug blieb im Bahnhof von Paleofarsalos. Ferner blieb der Zug 2594 von Larissa nach Thessaloniki aufgrund eines technischen Problems in der Nähe des Bahnhofs Larissa auf der Strecke. Obendrein verzögerte sich die Abfahrt des Intercitys IC 63, der auf der Strecke Thessaloniki nach Athen verkehren sollte, erneut wegen eines technischen Problems. 

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Griechenland befindet sich im kollektiven Schockzustand. Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis verhängte unterdessen eine dreitägige Staatstrauer. Kein Wunder ist, dass Kritiker den sofortigen Rücktritt von Transportminister Kostas Karamanlis forderten.  Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass bereits früh vor allem regierungsfreundliche Medien von einem "menschlichen Fehler" als Grund der Zugkatastrophe berichteten und dabei die Schuld dem Stationsleiter von Larissa gaben, dem letzten Bahnhof, den der ominöse IC 62 verließ.

Verkehrsminister tritt zurück

Am Nachmittag ist der griechische Verkehrsminister Kostas Karamanlis dann zurückgetreten. Die aktuelle Regierung habe die griechische Eisenbahn vor dreieinhalb Jahren in einem Zustand übernommen, der nicht ins 21. Jahrhundert passe, teilte Karamanlis mit. Man habe seither alles getan, um diesen Zustand zu verbessern.

"Leider reichten diese Bemühungen nicht aus, um einen solchen Unfall zu verhindern. Das ist sehr schwer für uns alle und für mich persönlich." Wenn so etwas Tragisches passiere, sei es nicht möglich, so weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Er halte es für unabdingbar, dass die Bürger dem politischen System vertrauen könnten. "Aus diesem Grund trete ich vom Amt des Ministers für Infrastruktur und Verkehr zurück." Er fühle sich verpflichtet, die Verantwortung für die Fehler des griechischen Staates zu übernehmen, sagte Karamanlis und drückte den Familien der Opfer nochmals sein Mitleid aus. 

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Die Homepage von Hellenic Train warb jedenfalls auch nach dem unsäglichen Unglück damit, dass man mit ihren superschnellen Zügen in exakt drei Stunden und 55 Minuten von Athen nach Thessaloniki reist. Für die Griechen klingt das spätestens seit der Tragödie von Tempi wie Hohn.