Jean Ronald Jocelyn wurde am Samstag unsanft geweckt. Es war 8.29 Uhr, als in der Stadt Les Cayes im Südwesten Haitis die Erde anfing zu wackeln. „Ich hörte Menschen schreien und mein Haus bewegte sich hin und her“, erzählte der Mann, der für die Nichtregierungsorganisation „Hope for Haiti“ arbeitet. Jocelyn lief auf die Straße und ihm kamen die fürchterlichen Bilder in den Kopf vom verheerenden Erdbeben vor elf Jahren, das damals vor allem die Hauptstadt Port-au-Prince traf und bei dem 200.000 Menschen starben. Jocelyn sagte: „Uns bleibt keine Katastrophe erspart.“

Diesmal traf es besonders die Städte Les Cayes, Jérémie und viele kleinere Ortschaften im Südwesten Haitis, rund 250 Kilometer von Port-au-Prince entfernt. Nach einer vorläufigen Bilanz des „Nationalen System für Katastrophenschutz“ wurden 724 Menschen getötet, 2800 verletzt.Die Erschütterungen zerstörten 899 Häuser und beschädigten 729, darunter Kirchen, Spitäler und Schulen.

Die Erdstöße lösten Panik und Erinnerungen an das Jahrhundertbeben von 2010 aus. Hauptbetroffen waren die Départements Nippes, Grande’ Anse und Sud, wo bis zu drei Millionen Menschen leben. Allerdings nicht so dicht gedrängt wie in der Hauptstadt. Das Epizentrum wurde zwölf Kilometer vor der Ortschaft Saint-Louis du Sud in zehn Kilometer Tiefe lokalisiert. Die Beben waren auch in der benachbarten Dominikanischen Republik und in Kuba zu spüren.

Die Hauptstadt selbst blieb von Schlimmerem verschont. „Die Gebäude wackelten, die Menschen liefen in Panik auf die Straßen, aber soweit zunächst ersichtlich, stürzten keine Gebäude ein“, sagte Annalisa Lombardo, Landesdirektorin von der Organisation „Welthungerhilfe“. Experten rechnen jedoch mit weiteren Opfern, die US-Erdbebenwarte USGS warnte sogar, dass die Todesopfer in die Tausenden gehen könnten. Internationale Hilfe ist dringend notwendig.

Hilfe aus den USA

US-Präsident Joe Biden drückte der Regierung und den Menschen sein Beileid aus und genehmigte eine Soforthilfe. Haitis neuer Premierminister Ariel Henry überflog den Südwesten und beschrieb die Lage als „dramatisch“. Er verhängte für einen Monat den Ausnahmezustand.

Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola teilt, wird seit vielen Jahren von Naturkatastrophen heimgesucht. Erdbeben wie das von 2010 und schwere Wirbelstürme haben das Land wiederholt getroffen. Auch für die kommenden Tage ist wieder ein Tropensturm vorhergesagt, der die Hilfs- und Aufräumarbeiten zu gefährden droht. Zudem wird der Inselstaat, der zu den ärmsten der Welt gehört, immer wieder von politischer Gewalt erschüttert. Erst vor einem guten Monat war der umstrittene Präsident Jovenel Moïse in seiner Residenz vermutlich von gedungenen Söldnern erschossen worden. Die Tat ist bis heute ungeklärt.

Kurz nach dem Beben stellten Haitianer Fotos und Videos in die sozialen Netzwerke. Darauf sieht man Männer und Frauen, die unter Trümmern graben, um Verschüttete zu bergen. Man sieht teilweise oder völlig eingestürzte Gebäude. Und man sieht Menschen panisch kreischend über staubige Straßen rennen. Die wenigen Krankenhäuser in der Region waren mit dem Ansturm der Verletzten überfordert. „Das Gesundheitssystem ist auf ein so dramatisches Ereignis nicht vorbereitet“, sagt Rosy Auguste von der Menschenrechtsorganisation RNDDH. Haiti und vor allem die Infrastruktur des Landes habe sich noch nicht einmal vom Beben im Jahre 2010 erholt.

Das Unglück vom Samstag traf Haiti jedoch zu einer Uhrzeit, zu der gewöhnlich Tausende Menschen auf den Straßen sind, auf dem Weg zur Arbeit oder zum Markt, um ihre Einkäufe zu erledigen. Daher gab es vermutlich nicht ganz so viele Opfer, wie es sie am Abend oder Nachmittag gegeben hätte.

Haiti ist das Armenhaus Amerikas. 60 Prozent der elf Millionen Menschen leben im Elend, ein Viertel in extremer Armut. 4,4 Millionen Haitianer sind laut Hilfsorganisationen in Gefahr, in sogenannte Nahrungsunsicherheit zu fallen. Das Beben vom Samstag hat die Not deutlich verschlimmert.