Hinter den weißen Zelten ragen die Reste verrotteter Plastikflaschen und Müllreste aus dem hastig planierten Erdreich. „Schau dir das selbst an“, sagt kopfschüttelnd der sehnige Pakistani Izmail. Bis vor wenigen Tagen habe das zehn Kilometer von der westbosnischen Stadt Bihac entfernte Flüchtlingslager nicht einmal über Toiletten verfügt, erzählt der 35-jährige Tischler: „Das Lager ist ein Müllberg in einem Wald. Das ist kein Platz für Menschen, sondern für Tiere.“

Ein Straßenhund döst vor dem Sanitätszelt im Staub. Zwischen 400 und 800 Menschen beherbergt das Mitte Juni von der Stadtverwaltung von Bihac eröffnete Auffanglager auf dem Gelände der früheren Mülldeponie Vucjak. Die meisten der Bewohner stammten aus Pakistan und Afghanistan, berichtet der Rotkreuz-Helfer Rizah. Die Fluktuation sei groß, meist würden die Leute nur wenige Tage bleiben, ehe sie erneut die Grenzpassage versuchen. Er weist auf die nahen Gipfel des Pljesevica-Gebirges: „Kroatien ist wenige Kilometer entfernt.“

"Sie tun mir einfach nur leid"

Hinter der Kirche im 40-Seelen-Weiler Zavalje führt eine ungeteerte Buckelpiste zu der einstigen Müllhalde. Nein, Probleme mit den neuen Nachbarn gebe es keine, versichert in ihrem Vorgarten eine Frau: „Sie tun mir einfach nur leid.“ Dass die Flüchtlinge fern der Stadt auf einer Mülldeponie „voller Gase und Schlangen“ abgeladen werden, bezeichnet sie als „Gipfel der Unmenschlichkeit“:

Jeden Abend marschierten an ihrem Haus unzählige Rucksackträger vorbei, die in der Nacht die Passage über den Pljesevica-Kamm versuchen, erzählt die Bäuerin: „Die meisten kommen humpelnd, verletzt und ohne Schuhe zurück. Sie werden von den Grenzern geschlagen, obwohl die Leute niemandem etwas getan haben.“

Flaschenhals der Balkanroute

Seit anderthalb Jahren ist Bosniens Westzipfel zum Flaschenhals der Balkanroute geworden. Die Zeiten, da am Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015/2016 zeitweise täglich über 10.000 Menschen auf einen von Griechenland bis Österreich reichenden „Korridor“ nach Westeuropa gelangten, sind vorbei. Laut Bosniens Innenministerium wurden heuer in den ersten sechs Monaten rund 10.500 Neuankömmlinge registriert. Der Großteil reiste über Serbien, ein kleinerer Teil über Montenegro ein. Fast alle Transitmigranten streben wegen der Nähe zu Sloweniens Schengengrenze in den Kanton Una-Sana. Allein in der Region Bihac wird ihre Zahl auf 6000 bis 8000 geschätzt. Die EU und die UN lehnen die Unterstützung für Flüchtlingslager in unmittelbarer Grenznähe prinzipiell ab. Mit der Versorgung der Migranten zeigen sich wiederum die lokalen und nationalen Behörden in dem dysfunktionalen Vielvölkerstaat so unwillig wie überfordert.

In Bihac tritt die kommunale Polizei immer rigider gegenüber den ungewollten Durchgangsgästen auf. Das Verweilen in der Innenstadt, in Parks oder vor dem überfüllten Auffanglager im Zentrum ist Neuankömmlingen nicht mehr gestattet: Aufgegriffene Rucksackträger werden in langen Kolonnen zu Fuß von der Polizei in das zehn Kilometer entfernte Lager Vucjak getrieben. Das Lager auf der Müllhalde sei „sehr schlecht“, doch das größte Problem seien die kroatischen Grenzpolizisten, sagt der 28-jährige Tahir aus Lahore und weist auf die bandagierten Füße eines schweigsamen Gefährten: „Sie tragen Gesichtsmasken. Wenn sie dich fassen, nehmen sie dir das Geld und die Rucksäcke ab und zerbrechen die SIM-Karten der Telefone. Dann prügeln sie auf dich mit Knüppeln ein.“

Den Vorwurf des Zurückprügelns beim „Abdrängen“ der unerwünschten Migranten über die grüne Grenze haben Kroatiens Würdenträger stets dementiert. Doch während eines Staatsbesuchs in der Schweiz gab Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarovic in einem Interview mit dem SRF in der Vorwoche zum ersten Mal zu, dass beim eigentlich illegalen „Pushback“ der Migranten „natürlich ein wenig Gewalt“ nötig sei.

Die Transitmigranten bezeichnen die versuchten Grenzpassagen als „game“, als „Spiel“. Aber Minenfelder, Bären und Kroatiens Grenzhüter machen den nächtlichen Gang durch den Gebirgswald zum gefährlichen Unternehmen. Ein Polizist habe ihn festgehalten, fünf weitere hätten auf ihn eingeprügelt, erzählt im Lager Vucjak der Tischler Izmail: „Es gab keinen Körperteil, der nicht getroffen wurde.“ Erst sei ihm Gas ins Gesicht gesprüht worden, dann sei er verprügelt worden, berichtet niedergeschlagen der 21-jährige Rashid aus Rawalpindi in Pakistan. Außer seinem Rucksack hätten die Grenzer auch seine Schuhe verbrannt. Er müsse nun auf Geld aus der Heimat warten und es dann noch einmal versuchen. Wegen seines beschädigten Telefons und der schwachen Stromversorgung im Lager falle es ihm jedoch schwer, seine Familie über seine Lage zu informieren: „Ich habe seit Wochen keinen Kontakt mehr mit ihr.“

Systematischer Sadismus

Im Sanitätszelt lassen die Ankömmlinge ihre Wunden versorgen. Im normalen Leben ist Arye Wachsmuth Künstler in Wien. Im Urlaub verarztet der Familienvater als Assistent einer befreundeten Ärztin entzündete Insektenstiche und Schlagwunden. Ein großes Problem sei die Krätze, die wegen fehlender Medikamente kaum behandelt werden könne. Doch nicht nur die Entzündungen von bei Stürzen zugezogenen Wunden machten den Lagerinsassen zu schaffen: „Es scheint inzwischen Standard, dass die Leute geschlagen werden. Das sind keine spontanen Gewaltorgien. Das ist Sadismus - und hat System.“

Oft würde so lange auf Schienbeine und Knie geschlagen, bis „die Haut platze“, berichtet Wachsmuth. Es habe aber auch schon Fälle misshandelter Flüchtlinge gegeben, bei denen Kopfwunden hätten genäht werden müssen: „Gestern hatten wir den Fall eines Mannes, dem von beiden Seiten so hart auf die Ohren geschlagen wurde, dass ein Trommelfell platzte.“ Am meisten zeigt sich der Hilfssanitäter aber über das Symbol schockiert, dass „Menschen auf einer Deponie deponiert“ würden. Den Gedanken, dass die Menschen zwischen dem Müll „auch nur Müll“ seien, hätten schon viele „im Kopf“. „Die Leute werden entsorgt. Das ist eine lokale Entscheidung. Aber in Europa schauen im Moment alle weg.“