PRO - von Wolfgang Benedek

Vieles spricht dafür, Carola Rackete als moderne Heldin zu sehen, auch wenn man mit solchen Zuschreibungen vorsichtig sein sollte. Mit ihrer mutigen Aktion, 42 Schiffbrüchige, die nach ihrer Rettung 17 Tage auf hoher See vor Lampedusa ausharren mussten, auch gegen den Willen des italienischen Innenministers Salvini an Land zu bringen, hat sie mit hohem persönlichen Risiko in mehrfacher Hinsicht ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen gegen die herzlose und den internationalen und europarechtlichen Verpflichtungen widersprechende Politik des italienischen Populisten, aber auch ein Zeichen gegen die unfähige EU und ihre Mitgliedstaaten, die mehr als zwei Wochen benötigten, um diese geringe Zahl an Flüchtlingen unter sich zu verteilen.

Vor allem aber hat sie damit auf die völlig untragbare humanitäre Situation der Flüchtlinge in Libyen sowie auf der sogenannten Mittelmeerroute aufmerksam gemacht. Erst vor wenigen Tagen wurde ein Internierungslager für Flüchtlinge nahe Tripolis bombardiert, es gab mehr als 40 Tote. Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen, ist aufgrund der aktuellen Bürgerkriegssituation eine Verletzung des Prinzips der Nichtzurückweisung, dennoch verlangt Italien eine Übergabe an die libysche Küstenwache.

Bis März war es einer der Aufgaben der EU-Operation „Sophia“, Flüchtlinge zu retten. Aufgrund der italienischen Einwände muss sich die Operation auf Luftaufklärung beschränken. Mehrere private Rettungsschiffe werden derzeit in europäischen Häfen festgehalten, die eine völkerrechtliche Verpflichtung darstellende Seerettung wird kriminalisiert.

Sterben wegen der sogenannten „Schließung“ der Mittelmeerroute weniger Menschen? Nach den Zahlen des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen starben 2018 mit 2275 Menschen etwa die Hälfte der Opfer des Vorjahres, doch ist die Wahrscheinlichkeit des Ertrinkens stark angestiegen, von 1:38 auf 1:14!

Ein behaupteter Zusammenhang zwischen privater Seerettung und Schlepperaktivitäten lässt sich wissenschaftlich nicht nachweisen. Wie die Spendenbereitschaft zeigt, besteht eine europaweite Solidarität von Menschen, leider aber nicht ihrer Regierungen für die Seerettung. Letztlich ist es die Entscheidung der Kapitänin, wann die Notsituation an Bord ein weiteres Abwarten verunmöglicht. Auch die italienische Richterin hat dies anerkannt und keinen Verstoß gegen die Staatsgewalt festgestellt. Die privaten Seeretter retten auch die Ehre Europas, wofür man sie nicht kriminalisieren, sondern ihnen dankbar sein sollte.

Zur Person
Wolfgang Benedek, geboren 1951 in Knittelfeld, lehrte als Universitätsprofessor am Institut für Völkerrecht in Graz, das er viele Jahre leitete. Internationaler Autor und Experte für Menschenrechte, insbesondere Meinungsäußerungsfreiheit sowie Migrations- und Flüchtlingsrecht.

CONTRA - von Hans Winkler

Gesinnungsethisch betrachtet ist Frau Rackete im Recht. Sie tut etwas absolut Gutes, nämlich Menschen aus Seenot retten, und muss deshalb nicht nach den Bedingungen und Folgen ihres Handelns fragen. „Sie hat die Moral auf ihrer Seite“ wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ hymnisch schrieb. Da darf sie dann natürlich auch Anordnungen der libyschen Küstenwache missachten und italienische Gesetze brechen, was in einem Rechtsstaat wie Italien aber erst die Gerichte feststellen müssen. Sie ist also eine Heldin - nach den Maßstäben ihrer eigenen Moral.

Objektiv betreiben die Sea- Watch 3, andere NGO-Schiffe und bald auch ein Schiff, das von den beiden christlichen Kirchen in Deutschland finanziert werden soll, aber die Geschäfte der Schlepper. Das steht wörtlich so in einem Bericht des European Political Strategy Centre (EPSC) beim Präsidenten der EU-Kommission. „Illegale Überfahrt wird billiger, häufiger und gefährlicher“, heißt es dort ziemlich schonungslos. Die Mehrheit der „irregulären Immigranten“, so der fachliche Terminus, lege den Weg nach Italien auf Schiffen von Küstenwache oder NGOs zurück, die damit, so auf Seite 7 des Berichts, „das Geschäft der Schlepper betreiben“.

Wie läuft die „Seenotrettung“ im Mittelmeer ab? Die NGOs operieren auch innerhalb der libyschen Hoheitsgewässer, was den Schiffen der EU-geführten Operationen „Themis“ und „Sophia“ nicht erlaubt war bzw. ist. Daher können die Schlepper sicher sein, dass in ein paar Seemeilen die „Retter“ warten. Sie brauchen keine seetüchtigen Schiffe mehr einzusetzen, es genügen Schlauchboote, deren Zerstörung eine der Tätigkeiten der EU-Schiffe ist. Selbst steigen sie gar nicht mehr auf die Boote, was ihr Risiko, gefangen zu werden, beträchtlich verringert.

Das Völkerrecht kennt eine Pflicht zur Rettung aus Seenot. Diese ist aber nicht dafür geschaffen worden, dass sich Tausende auf seeuntauglichen Booten bewusst in Lebensgefahr bringen. Für diesen Fall hat es keine Lösung, diese kann nur von der Politik kommen.

Seit dem Deal zwischen Italien und den verschiedenen Machthabern in Libyen ist die Zahl der Bootsmigranten drastisch gesunken. Das droht den Schleppern ihre Geschäftsgrundlage zu entziehen. Es ist die Tragik von Frau Rackete und anderen, dass sie nur noch jene wenigen abholen und nach Europa bringen können, die es aus den schrecklichen libyschen Lagern geschafft haben, weil sie den Schleppern am meisten bezahlen konnten. Dass sie damit auch Matteo Salvini in die Hände arbeiten, ist ein Nebeneffekt, den sie nicht beabsichtigt haben dürften.

Zur Person
Hans Winkler, geboren 1942 in Veitsch, studierte Rechtswissenschaften in Graz. 1968 bis 1973 Generalsekretär der Katholischen Aktion der Diözese Gurk-Klagenfurt. Von 1973 bis 2007 war Winkler Redakteur bei der Kleinen Zeitung und ab 1995 Leiter der Wiener Redaktion. Seit 2007 ist er freier Publizist.