Dienstagabend in Kecskemet: Auf dem Hauptplatz, einer Perle des Jugendstils, wird gefeiert. Dass einige hundert Meter entfernt im altehrwürdigen Gerichtsgebäude der Prozess gegen eine mutmaßliche Schlepperbande beginnt, verantwortlich für den grausamen Erstickungstod von 71 Flüchtlingen, davon hätten die Feiernden, Bewohner von Kecskemet, weder gehört und gelesen, sagen sie.

Die Stadt mit den rund 110.000 Einwohnern im Süden Ungarns lockt derzeit die Menschen zum Obstler- und Weinfestival. Stände bieten deftige ungarische Küche, guten Wein und Schnaps. Die Gäste an den langen Holztischen sind ausgelassen und gesprächig. Kecskemet, die Hauptstadt des Komitats Bacs-Kiskun, sei schön und quirlig, sagen sie. Mit Entsetzen schütteln die jungen Frauen den Kopf, als sie von den Anschuldigen des mehrfachen Mordes hören. Elf Männer sollen den schrecklichen Erstickungstod von Migranten, darunter auch von Kindern, in einem Kühl-Laster billigend in Kauf genommen haben. Das ist furchtbar, meint eine der Frauen mit brünettem Haar.

Kein Thema

Eine blonde junge Frau verteidigt ihre Unkenntnis damit, dass das Thema Flüchtlinge in Ungarn kein Thema sei. Ungarns Grenze sei dicht, das Land habe kaum Flüchtlinge, betont sei. Deswegen hätten die ungarischen Medien wohl zumeist wenig Interesse gezeigt. Schade sei, dass Kecskemet nun wegen dieser furchtbaren Tat in das internationale Interesse gelange und nicht wegen seiner Kultur oder Tradition, bedauert die junge Frau. Auch eine Frau hinter einer Theke schüttelt hinsichtlich der Kenntnisse zum Thema Schlepper-Prozess bedauerlich den Kopf. Von den 71 Toten in der Pannenbucht bei Parndorf im Burgenland habe sie nichts gewusst.

Der Prozess, der Mittwoch früh beginnt, lockt zahlreiche internationale Journalisten in die Kleinstadt. An die 100 Reporter hätten sich angemeldet, wie es heißt. Das Verfahren ist bisher in den ungarischen Medien wenig Thema. Nur mit einem Satz wird am Dienstag vermeldet, dass am Mittwoch um 8.30 Uhr der Schlepper-Prozess in Kecskemet beginnt. Es werden viele Prozesstage vergehen, ehe über die u.a. wegen qualifizierten Mordes und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung Angeklagten ein Urteil gefällt wird. Sie müssen mit hohen Haftstrafen rechnen. Nur gerecht, sagen die jungen Frauen auf dem Festival - und sie hoffen auf ausführliche Berichterstattung ihrer Medien.

Was passierte?

Nach dem schrecklichen Erstickungstod von 71 Flüchtlingen, deren Leichen 2015 in einem an der Ostautobahn (A4) bei Parndorf abgestellten Kühl-Lkw entdeckt worden sind, wird elf Schleppern in Ungarn der Prozess gemacht. Die Oberstaatsanwaltschaft des Komitats Bacs-Kiskun hat Anklage wegen "qualifizierten Mordes" und Schlepperei im Rahmen einer kriminellen Vereinigung erhoben.

Das Verfahren beginnt heute, Mittwoch, am Gerichtshof Kecskemet. Mit einem Urteil ist allerdings erst Ende des Jahres zu rechnen, sagte Gerichtssprecherin Anett Petroczy.

Chef der Schlepperbande ist laut Anklage ein 30-jähriger Afghane, der nicht nur die Gelder kassierte, sondern gemeinsam mit einem 31-jährigen Bulgaren und einem 51-jährigen bulgarisch-libanesischen Staatsangehörigen von Februar bis August 2015 die Fahrten organisierte. Seit Juni 2015 schleppten sie verstärkt Flüchtlinge von Serbien über Ungarn nach Österreich bzw. Deutschland. 31 solcher Fahrten konnte die Staatsanwaltschaft in Ungarn nachweisen. Auf diese Weise wurden mehr als 1.200 Menschen nach Westeuropa geschleppt, während die Bande insgesamt 300.000 Euro kassierte.

Meist verwendeten sie Lieferwagen, die für den Personentransport völlig ungeeignet waren, "geschlossen, dunkel und luftlos", beschrieb es die Staatsanwaltschaft. Die Flüchtlinge waren "unter überfüllten, unmenschlichen und qualvollen Umständen gereist". Es gab Fahrten, wo an die 100 Menschen in ein Fahrzeug gepfercht wurden. Begleitet wurden die Schleppungen von sogenannten "Vorläuferwagen".

Dramatische Fahrt in Tod

Wie dramatisch die Fahrt am 26. August 2015 nach Österreich war, zeigt die Rekonstruktion der ungarischen Staatsanwaltschaft. Um 5.00 Uhr wurden die 71 Flüchtlinge - 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder - bei Morahalom an der serbisch-ungarischen Grenze in den Kühl-Lkw gepfercht. Die Menschen sollten über mehrere ungarische Autobahnen nach Österreich geschleust werden. Das Schwerfahrzeug, das aus Kecskemet stammt, wurde von einem 25-jährigen Bulgaren gefahren, begleitet von einem 38-jährigen Landsmann, der in einem "Vorläuferwagen" voraus fuhr.

Bereits nach einer halben Stunde Fahrt machten die in den Lkw gepferchten Flüchtlinge lauthals darauf aufmerksam, dass sie keine Luft mehr bekamen. Sie klopften und hämmerten gegen die Wände und schrien verzweifelt. Das hörten die beiden Bulgaren, berichteten dem afghanischen Chef telefonisch darüber, doch der wies sie an, weder den Wagen zu stoppen noch die Türen zu öffnen. Die 71 Menschen erstickten qualvoll in dem Lkw noch auf ungarischem Staatsgebiet. Innerhalb von drei Stunden waren alle Flüchtlinge tot, wie die Staatsanwaltschaft ausführte. Als die beiden Bulgaren die österreichische Grenze überfuhren, stellten sie den Kühlwagen auf der A4 bei Parndorf ab und flüchteten mit dem Vorläuferwagen nach Ungarn.

Obwohl alle 71 Flüchtlinge bei der Fahrt ums Leben kamen, organisierte die Schlepperbande nur einen Tag später ohne Skrupel eine weitere Fahrt mit Migranten in einem Kühllastwagen. Wieder waren 67 Menschen ohne Luftzufuhr in dem Wagen eingepfercht. Nur durch viel Glück überlebten die Flüchtlinge die Fahrt, weil sie die Tür des Laderaums mit den Füßen auftraten.

Zwei Anklagen in Abwesenheit

Neun mutmaßliche Schlepper - ein Bulgare wurde erst vor kurzem festgenommen - warten in der Untersuchungshaft auf den Prozessbeginn im Juni. Gegen zwei weitere Bandenmitglieder wurde Anklage in Abwesenheit erhoben. Gegen vier Angeklagte, die an der tödlichen Schleppung beteiligt waren, wurde eine lebenslange Zuchthausstrafe beantragt, der Antrag gegen die anderen Beschuldigten umfasste eine befristete Zuchthausstrafe sowie die Abschiebung aus Ungarn.

Für den Prozess sind laut Gericht Kecskemet 30 Verhandlungstage anberaumt. Im Juni sind zunächst sechs Verhandlungstage geplant. Im Juli und August werden an drei weiteren Verhandlungstagen Zeugen aussagen. Im September kommen beim Prozess die Sachverständigen zu Wort.