Die Erde bebt. Schon wieder. Ein paar Sekunden nur. Dann ist sie abermals ruhig. „Das war ein Fünfer.“ Georgios Vlavianos, 83, sitzt in seiner Einzimmerwohnung mit Fernseher, Kühlschrank, Heizkörper auf Standfüßen und alten Fotos auf seinem Bett. Mit „Fünfer“ meint der Pensionist ein Erdbeben der Stärke fünf auf der Richterskala. Der rüstige Grieche macht keine Anstalten aufzustehen, geschweige denn seine Bleibe zu verlassen. Vlavianos lebt im Erdgeschoss eines zweistöckigen Wohngebäudes im Ort Karterados im Herzen der Insel. Es ist Tag 15 einer beinahe unheimlichen Bebenserie. Sie nahm am 24. Jänner ihren Anfang. Seither zittert die Erde auf Santorin. Seismographen haben inzwischen über 7000 Erdstöße registriert. Maximale Stärke: 5,2 Richter. Bis dato.

Pensionist Vlavianos will bleiben
Pensionist Vlavianos will bleiben © Batzoglou

Vlavianos war 13, als am 9. Juli 1956 Santorin von einem Doppelbeben mit Magnituden von über sieben erschüttert wurde, was zudem einen Tsunami mit Wellen von bis zu 22 Metern Höhe auslöste. Es kam zu enormen Schäden, 50 Menschen starben. Dies hat sich tief in Vlavianos‘ Gedächtnis eingegraben. „Unser altes Haus in Fira (Hauptort der Insel Santorin) hatte keine Fundamente. Um fünf Uhr in der Früh bebte plötzlich die Erde. Sofort verließen meine Eltern, meine fünf Brüder und ich das Haus. Hals über Kopf. Das rettete unser Leben. Ein Bus brachte uns nach Monolithos an der Ostküste. Dort hatten Verwandte ein Ferienhaus. Da blieben wir damals drei Wochen.“

Wie sieht er die Bebenserie heute? Vlavianos prompt: „Bis zur Stärke sieben habe ich keine Angst.“ Weshalb? „Sie sehen doch. Das Haus ist neu. Das hält auch starke Erdbeben aus.“ Fährt er mit seinem klapprigen Renault Clio auf der Insel herum, könnten ihm die Erdstöße ebenso nichts antun. „Ich betrete keine alten Gebäude. Das reicht.“ Wann würde er Santorin verlassen? Dazu Vlavianos unverblümt: „Ich gehe nur, wenn sie uns sagen: Die Insel geht unter.“   

Viele Menschen verließen die Insel

 So lange wollen andere nicht warten. Vor Santorins Flughafen sind Hunderte Autos abgestellt. Für wie lange, weiß keiner. Die Autos gehören Inselbewohnern. Sie haben im Laufe der Bebenserie kalte Füße bekommen. Ob mit dem Flieger oder der Fähre: Mehr als 10.000 der 25.000 dauerhaft auf der Insel lebenden Menschen haben das Eiland bisher verlassen. 

Die Geschäfte haben zu,  die Straßen sind menschenleer.
Die Geschäfte haben zu, die Straßen sind menschenleer. © Batzoglou

Die Familie Kelmaer bleibt. Spyros, 48, Privatangestellter, und seine Kinder Filippos, 13, sowie Zoi, 11, machen es sich auf dem Sofa in L-Form im Wohnzimmer ihres Eigenheimes in Santorins Südosten gemütlich. Seine Frau Sofia, Psychologin, arbeitet im Spital der Insel. Ob der Bebenserie haben die Kinder keine Schule. Die meisten ihrer Mitschüler hätten Santorin schon früh verlassen, wie Filippos und Zoi erzählen. Digitalunterricht? Fehlanzeige. Dies erklärt ihre Grundstimmung: fröhlich. Draußen weht ein frischer Wind, im Garten steht ein Eukalyptusbaum. „Das Haus ist vor gerade 20 Jahren gebaut. Das ist sicher“, sagt Spyros Kelmaer.

Der Familienvater steht auf, die Kinder folgen. Im Schlafzimmer von Filippos hängt eine Trillerpfeife von seinem Hochbett. Auch seine Schwester hat eine. Dazu noch Wasser. Immer wenn die Erde stärker als sonst bebe, rennt die Familie in den winzigen Flur zwischen Küche und Salon. „Das ist der sicherste Ort im Haus, sagt unser Architekt“, so Kelmaer. Die Haustür bleibt stets unverschlossen. „Es gibt keinen Grund dafür, die Insel zu verlassen. Das Wichtigste ist, besonnen zu sein.“ 

So bringt sich Familie Kelmaer in Sicherheit
So bringt sich Familie Kelmaer in Sicherheit © Batzoglou

Das sieht Christos Dendrinos, 50, der wie der junge Clint Eastwood aussieht, in zweiter Generation Inhaber zweier Hotels im Hauptort Fira, genauso. Er greift sich von der Ablage an seinem Schreibtisch einen Stapel ausgedruckter Seiten.“Schau, alles neue Buchungen! Aber für Ankünfte nach Mitte März. Für jetzt nehme ich keine Buchungen an, weil ich derzeit unterbesetzt bin und daher nicht den gewohnten Service bieten kann.“

Hoteldirektor Dendrinos
Hoteldirektor Dendrinos © Batzoglou

Kaum Touristen mehr

Dendrinos ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Ob Köche, Kellner, Zimmermädchen oder Rezeptionisten: Viele Angestellte im Tourismus, aber auch Bauarbeiter, die aus ganz Hellas und anderswo auf Santorin ihre Brötchen verdienen, haben schon das Weite gesucht. Mit Erdbeben haben sie kaum bis gar keine Erfahrung. Manche plagte das Dauerzittern der Erde, andere die Angst vor einem Mega-Beben, Tsunami oder Vulkanausbrüchen. 

Touristisch ist der Februar auf Santorin eine ruhige Zeit. Dass so viele Geschäfte, Restaurants, Cafés und Hotels wie jetzt im Urlaubsparadies zugesperrt sind, ist indes ein Novum. Die Mehrheit der Urlauber, die sich vom einzigartigen Naturphänomen partout nicht verschrecken lassen wollen, kommen aus Asien oder Übersee. Unbeirrt malt eine ältere Chinesin mit rosa Hut von der Hotelterrasse mit umwerfendem Blick auf die Vulkaninsel Nea Kameni ein Gemälde. Haruki und Shun aus Tokio, beide 23, stehen vor Firas blütenweißer Kirche. „Bei uns in Japan sind die Beben sehr viel stärker. Wackelt unser Hotel, schlafen wir einfach weiter“, kichert Haruki. Shun nickt.

Unbeirrt malt eine ältere Chinesin
Unbeirrt malt eine ältere Chinesin © Batzoglou

Für Christos Dendrinos, den umtriebigen Hotelier, ist die einmalige Bebenserie „eine neue Erfahrung“, wie er offenbart. „Erdbeben stecken in der DNA der gebürtigen Santoriner wie mich. So ist Santorin geboren. Ein Vulkanausbruch hat sie geschaffen. Jetzt erzieht sie uns. So etwas verpasst man nicht.“