Nach 9 Uhr wartet spätestens das Büro. Der Morgen beginnt aber wie viele Wochentage im Jahr von Josef Zotter: Er fährt Tochter Valerie in die Waldorfschule und dann zurück nach Bergl in die Oststeiermark. Dorthin, wo sein österreichweit bekanntes Schoko-Laden-Theater steht. Auf dem Weg ins Büro nimmt er schnell einen Espresso. Ein kleiner Kaffeejunkie ist er schon irgendwie, sagt er. Auch deshalb hat sich der Chocolatier eine eigene Rösterei angeschafft, in der er nun seinen fair gehandelten Biokaffee verarbeitet. Während Zotter seine E-Mails checkt und Bewertungen durchforstet, knabbern wir an anderen ­Dingen. Denn bittersüß ist der Nachgeschmack mancher ­herkömmlicher Schokotafeln: Während man sich genüsslich ein nachhaltiges Zotter-Schokolade-Eckerl nach dem anderen schmecken lässt, könnten einem die Probleme in den Herkunftsländern der Süßigkeit schon sauer aufstoßen. Ertragreichere Pflanzenklone verdrängen alte Edelkakaosorten, und weltweit lebt eine Vielzahl der Kakaobauern unter der Armutsgrenze. Nur rund fünf Prozent des Marktanteils werden fair gehandelt. Der einzige Chocolatier Europas, der ausschließlich fair und in Bioqualität produziert, sitzt gerade hier, in seinem Büro.

10.30 Uhr, Produktion. Rund 300 Tonnen Kakaobohnen werden in Josef Zotters Betrieb in Bergl zu 600 Tonnen Schokolade verarbeitet. Umgelegt wäre das ein Gewicht von etwa 30 großen Bussen oder drei Blauwalen. Zugegeben, der Vergleich ist recht unorthodox. Aber damit passt er prächtig hierher. Wo sonst hat man eine private Notkassa für Mitarbeiter, einen „Essbaren Tiergarten“ und mischt Fisch, Grammeln oder Bier in Schokolade? Bio, versteht sich. Seit 2006 ist der Betrieb biozertifiziert. Das bedeutet, heute mehr als 400 unterschiedliche Zutaten für die 400 Schokosorten in Bioqualität heranzuschaffen. Vom Kakao bis zum Lavendel, vom Whisky bis zum Nougat, vom Sesam bis zur Gojibeere. Und es zeigt sich, dass Austausch weit über den Erwerb von Rohstoffen hinausgehen kann: Vor wenigen Tagen kehrte Zotter von einer Reise zu einer Kooperative von Kakaobauern in Madagaskar zurück. Und gerade jetzt, hinter der gläsernen Wand zur Produktion, drängelt sich eine Gruppe von indischen Bauern und winkt zu dem Chocolatier herunter.
Schon vor zehn Jahren investierte Zotter rund 18 Millionen Euro, um „Bean-to-Bar“ produzieren zu können, also von der Bohne bis zur Tafel mit einer eigenen Kakaorösterei vor Ort. Die Energie, die dafür nötig ist, wird mittels Fotovoltaik, Dampfkraft und Erdwärme erzeugt – zu etwa 60 Prozent ist man in der Schokomanufaktur energieautark. Im „Essbaren Tier­garten“, der Öko-EssBar und der angegliederten Landwirtschaft schafft man 100 Prozent.

Weiter geht es in die Tiefen der Lagerräume. Dorthin, wo Besucher auf ihrem Weg durch das Schoko-Laden-Theater nicht geleitet werden, auch wenn beinahe die ganze Produktion einsehbar ist. Bei gleichbleibender Temperatur lagern hier Sesam-, Paranuss- und Cashew-Nougat, insgesamt sind es zwölf Sorten Nougat. Ein Tresor für Naschkatzen. Das nächste Lager betritt Josef Zotter fast ehrfürchtig, greift in einen der Kartons und wickelt eine dünne Schokoladentafel aus. Labookos nennt er die Essenzen aus der Zusammenarbeit mit Kakaobauern aus rund 15 Ländern. Ein Stück Peru schmilzt auf der Zunge. Feine Säure breitet sich aus, zarte fruchtige Noten von Orange, ein Hauch von Blüten. „Schokolade ist wie guter Wein“, sagt Zotter. Zwischen den einzelnen Ländern liegen – auch rein geschmacklich – Welten. Hier ist die wahre Schatzkammer für Feinschmecker. Bis die Tafeln in der ganzen Welt landen, dauert es Monate. Doch schon vorher war jahrelange Arbeit vonnöten: Seit 2004 setzt der Chocolatier auf fairen Handel, kleinbäuerliche Strukturen, partnerschaftliche Beziehungen zu den Kakaobauern. Über Jahre hat man gemeinsam an der Qualität gefeilt, gegen die Massenproduktion gearbeitet.

14 Uhr, Schoko-Laden-Theater. Besucher schlendern durch die Gänge, den Verkostungslöffel in der Hand, quasi den verlängerten Arm zum Glück. Vorbei geht es am Lager mit Jutesäcken und an Fässern voll mit Kakaobohnen – ein neuer Reifeversuch von „Dry Aged“­-Kakao in steirischer Eiche. Dann tauchen die ersten Schokobrunnen auf. Immer wieder heißt es den Arm ausstrecken, die Löffel eintauchen, den Duft der Schokolade aufnehmen, kosten, schmecken. Rund 265.000 Besucher verbucht das Unternehmen jährlich. „Heute ist ein ruhiger Tag“, sagt Josef Zotter. Etwa 800 Besucher, schätzt er. Die ganze Ortschaft Bergl zählt gerade einmal die Hälfte an Einwohnern.

Zotter ist hier aufgewachsen. Wo heute Schokotafeln gefertigt werden, stand einst der Stall der Familie. Immer wieder wird der gelernte Koch/Kellner nun auf dem Weg zur Trinkschokoladen-Gondelstation nach einem Autogramm gefragt. Dann zieht er seinen Kuli aus der Tasche mit einem Griff aus Pappe. „Zu 80 Prozent öko“, grinst er und fügt dann ernst hinzu: „Unsere Besucher tragen den Ökogedanken in die Welt. Wir wollen ja nicht mit dem Zeigefinger dastehen und ihnen das eintrichtern, wir leben es vor.“ Spätestens beim Running Schoko am Ende des Theaters, wo alle Sorten an einem Förderband wie im Schlaraffenland an einem vorbeiziehen, sollte gewährleistet sein, dass man sich nachhaltig an den Besuch erinnert.
Das Beste vorleben, das gilt auch bei der Mitarbeiterführung. Hier rennt der Chef nicht mit der Peitsche durch den Laden. Das ist an der Stimmung zu spüren – und am Umgangston. „Ich will meinen Mitarbeitern gute Löhne zahlen. Wir produzieren derzeit 60.000 Tafeln Schokolade am Tag. Das geht nur, wenn man motiviert ist.“ Nachsatz: Mit denselben Mitarbeitern, mit denen an „normalen“ Tagen um die 20.000 Tafeln produziert werden. Als Unternehmer könnte man sich fragen, warum nicht täglich die Höchstzahl angestrebt wird. „Das geht nicht“, wehrt Zotter ab, „da würde man auf längere Zeit ermüden und die Freude verlieren.“ Mittags wird für die Mitarbeiter gekocht – bio natürlich. Und seit es die Öko-EssBar im Tiergarten gibt, kommen vor allem Zutaten aus hauseigener Landwirtschaft in den Kochtopf.
Helga biegt ums Eck. Sie ist eine von fünf beeinträchtigten Mitarbeitern und führt eine Gruppe gehörloser Besucher durch das Theater. Etwa 180 Mitarbeiter zählt die Manufaktur in Bergl. Hier schupft man auch großteils die Produktion für Schanghai. Ein Tochterunternehmen im wörtlichen Sinn – Zotters Tochter Julia, Lebensmittel- und Biotechnologin, ist im Schoko-­Laden-Theater in China für weitere 30 Mitarbeiter zuständig. Zotter, das ist auch ein Familienbetrieb. Ulrike Zotter ist für die Zahlen zuständig („Sonst würde hier nichts mehr gehen“). Sohn Michael kümmert sich um den Webshop. Das Onlinegeschäft brummt und macht schon fast 30 Prozent des Umsatzes aus.

16 Uhr, „Essbarer Tiergarten“. Weiter geht’s ins Freie. Kurzer Zwischenstopp bei den E-Tankstellen für die Mitarbeiter. Auch Josef Zotters Auto tankt hier Strom. Er greift nach einer Jacke auf dem Rücksitz. Es ist empfindlich kalt geworden, der „Essbare Tiergarten“ rüstet sich für die Winterpause bis März. Vorher noch eine kurze Runde. Vorbei an grasenden Lamas im Schatten riesiger Sonnenkollektoren. Enten watscheln hinter Sulmtaler Hendeln her, „Zottelviecher“ kommen an der Öko-EssBar vorbei, um ihrerseits einen Blick auf die Besucher zu werfen. Hasen, Tauben, Kärntner Blondvieh, Schwäbisch Hällisch und Tiroler Grauvieh – alle über ausgedehnte Weiden und in den Wäldern verstreut. Rund 85 Hektar erstrecken sich im Freiluftareal des Schoko-Laden-Theaters, 27 davon hat Zotter für Besucher begehbar und zur biologisch bewirtschafteten Landwirtschaft gemacht. Die Perlhuhn-Gang schlägt gehörig Krach, bevor sie aufflattert und in den Wald segelt.
Etwa 60 unterschiedliche Tierarten beherbergt der „Essbare Tiergarten“. Es ist ein Projekt, das Zotter anfangs auch Gegenwind eingebracht hat. Schließlich schaut man nicht jeden Tag seinem Essen in die Augen. Und genau das ist die Idee dahinter: Tiere und Pflanzen als Lebewesen zu begreifen und nicht als Produkte, die ­abgepackt im Supermarkt den ­Bezug zur Realität vermissen ­lassen. Gekocht wird „Farm-to-Table“, also alles, was die Landwirtschaft hergibt. Gemüse, Kräuter, Obst, sogar eine eigene Pilzzucht hat man in Strohballen angelegt. Das Getreide für das selbst gebackene Brot wird zentrofan gemahlen, quasi wie bei einem Wirbelsturm durcheinandergewirbelt.

Die Neuerwerbung aus Aus­tralien, ein Kängurupärchen, ist davon völlig unbeeindruckt. Nicht alle Tiere landen im Kochtopf – im Streichelzoo wuseln Hängebauchschweine zwischen Eselbeinen herum. Eines büxt aus. „Das macht es immer“, sagt Zotter entspannt und nimmt einen Schluck aus der hausgemachten Bio-Cola-Limonade. „Wenn es Futter gibt, ist es wieder da.“
Hinter der Öko-EssBar liegen vertikale Gärten – sie liefern Schatten für das angrenzende Bürogebäude, die Finanzbuchhaltung. „Ich wollte sie möglichst weit weghaben“, sagt Zotter mit einem Augenzwinkern. Nach wirtschaftlichen Tiefschlägen und Konkurs vor vielen Jahren kann er nun auf Erfolge am laufenden Band zurückblicken. Als einziges österreichisches Unternehmen steht Zotter etwa auf dem Lehrplan der Studenten der Harvard University. 2012 kürte ihn Schokoladentester Georg Bernardini zum „besten Schokoladenhersteller der Welt“. Der Adelsstand für einen Chocolatier. Doch Zotter schaut kaum zurück. So viel gilt es noch zu tun, neue Taten zu setzen. Etwa mit Sozialprojekten wie dem aktuellen „Schokolade macht Schule“, das die Schulbildung von Kindern in den Ziegelwerken Perus unterstützt.