An seine Augen kann sich Karin (Name von der Redaktion geändert) bis heute erinnern: "Sie waren durchdringend, so dunkel." Dass sich ihr Weg mit dem des Mannes einmal kreuzen würde, hätte sie Monate zuvor, als sie von ihm in der Zeitung las, nicht gedacht. 

"Ein 29-jähriger Afghane tötete mit einem Küchenmesser seine 25-jährige Ehefrau – das Paar hat eine erst vierjährige Tochter", berichtete die Kleine Zeitung. Das war im Februar 2020. "Zwischen den Eheleuten war es zuvor zu einem Streit gekommen, den Nachbarn mitanhörten. Vermutlich ging es dabei um Schläge und ein blaues Auge, das der Afghane seiner Frau am Tag zuvor verpasst haben soll. Diese vertraute sich daraufhin einer Betreuerin an." Monate später, im Juli, saß Karin dem Täter vor Gericht gegenüber. Er als Angeklagter, sie als Geschworene.

Anklage: Mord

"Ich habe gewusst, dass ich als Geschworene herangezogen werden kann", sagt Karin, die insgeheim aber gehofft hatte, dass es sie nicht treffen würde. "Knapp bevor die Frist ausgelaufen ist, bekam ich dann Post." Ein eingeschriebener Brief vom Landesgericht Leoben. Ein richtig "dickes Packerl", wie Karin beschreibt. Denn das Kuvert enthielt gleich eine Reihe an Unterlagen – nicht nur Informationen zu den Abläufen vor Gericht, sondern auch Hintergründe zur Tat. "Da standen Paragrafen dabei, die ich daraufhin auf Google gesucht habe. Der erste Paragraf umfasste schwere Körperverletzung mit Todesfolge, der zweite Mord", erinnert sie sich mit Unbehagen zurück. Aber wie kam Karin überhaupt in diese Situation?

"Laienrichter werden nach dem Zufallsprinzip aus der Wählerevidenz ausgewählt", wird auf der Website des Bundesministeriums informiert. Man wird entweder zu Schöffen oder Geschworenen berufen. Infrage kommen österreichische Staatsbürgerinnen und -bürger, die zwischen 25 und 65 Jahre alt sind. Es gibt aber auch einige Ausschlussgründe und bestimmte Berufsgruppen, die das Amt nicht ausüben können – mitunter weil sie keine Laien sind. Regierungsmitglieder, Geistliche, Richter, Staatsanwälte, Notare und Bewährungshelfer kommen demnach nicht infrage. Weitere Informationen dazu gibt es hier.

Statistiken darüber, wie viele Menschen jährlich in Österreich dieses Amt übernehmen, werden nicht geführt. "In Hinblick auf die Verfahren kann gesagt werden, dass 2022 insgesamt rund 3300 Schöffenverfahren angefallen (mit je zwei Laienrichter/-innen) und rund 400 Geschworenenverfahren (mit je acht Laienrichter/-innen)", sagt Claudia Simon aus der Kommunikationsabteilung des Bundesministeriums für Justiz. 

"Konnte nicht ahnen, was das heißt"

Am Morgen des 8. Juli 2020, dem Tag der Gerichtsverhandlung, schlug Karin die Zeitung auf. Da sprang ihr schon die Schlagzeile entgegen, die den Prozess ankündigte: "Ich mir nur, das ist 'mein' Prozess." Mit gemischten Gefühlen fuhr sie zum Gericht: "Einerseits ist es interessant, dass man die Möglichkeit bekommt. Aber zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht ahnen, was das heißt."

Sie kam sich vor wie in einer ganz anderen Welt, als der Dolmetscher die Aussagen des Angeklagten übersetzte, der von seiner Eifersucht und den Stimmen im Kopf sprach; als Nachbarn von den Schreien berichteten und die Betreuerin die Momente in Erinnerung rief, die auch ihr Leben für immer verändern sollten. "Die Frau hat davon erzählt, wie sie seit der Tat arbeitsunfähig ist", sagt Karin. Den ganzen Tag lang wurden den Geschworenen Informationen zur Tat, dem Hergang und den Hintergründen präsentiert.

Tatortbilder

Dann kam der Bericht der Gerichtsmedizinerin und mit ihr der Katalog mit den Tatortbildern. "Ich musste mich gedanklich distanzieren, weil es mich so ergriffen hat", sagt die Murtalerin, die das Bild der Frau, wie sie am Boden lag, bis heute vor sich sieht. "Sie war übersät mit Messerstichen, es war wirklich alles zu sehen."

Als es darum ging, über die Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten zu entscheiden, waren sich Karin und die restlichen Laienrichterinnen und -richter schnell einig. "Die Geschworenen befanden einstimmig, dass es Mord war. Außerdem wurde der 30-Jährige wegen schwerer Körperverletzung schuldig gesprochen", ist das damals nicht rechtskräftige Urteil im Bericht der Kleinen Zeitung nachzulesen. Die Art und Höhe der Strafe – in diesem Fall waren es 20 Jahre Haft – sprechen die Geschworenen mit den Berufsrichterinnen und -richtern ab, wie auch das Bundesministerium informiert.

Viel Verantwortung

Heute weiß Karin: "Wenn man nicht mit beiden Beinen im Leben steht oder keine starke Persönlichkeit hat, ist so ein Prozess schon schwer zu verkraften." Im offiziellen Leitfaden für Geschworene findet man auch Anlaufstellen für psychologische Unterstützung. "In seltenen Fällen können die Geschehnisse bei Gericht und die Inhalte von Verhandlungen Laienrichter/-innen während und auch nach Abschluss der Verhandlung stark belasten", wird im Leitfaden eingeräumt. "Das ist nicht ungewöhnlich, bedenkt man, dass Laienrichter/-innen in dieser Funktion oft erstmals mit Verbrechen oder besonders belastenden Lebenssituationen in Berührung kommen."

Tatsächlich gibt es auch Ausschlussgründe für Laienrichterinnen und -richter. "Das Geschworenen- und Schöffengesetz 1990 kennt Ausschlussgründe und Befreiungsgründe, beide betreffen die Listenerstellung, kein konkretes Verfahren", informiert Claudia Simon. "Es müsste also eine 'unverhältnismäßige persönliche Belastung' vorliegen, damit man gar nicht auf die Liste kommt. Ein Befreiungsgrund ist daher vorrangig bereits im Verfahren zur Listenerstellung vorzubringen und zu beurteilen." Weitere Ausschlussgründe sind etwa mangelnde Deutschkenntnisse oder gerichtliche Verurteilungen.

Grundsätzlich ist die Mitwirkung der Laienrichter in Österreich ein wertvolles Gut. Claudia Simon: "Diese Mitwirkung hat ihre Grundlage im demokratischen Prinzip der österreichischen Verfassung." Und überhaupt soll Karins Geschichte nicht der Abschreckung dienen. Dass sie an jenem Tag viel Verantwortung übernehmen durfte, ist ihr bewusst. Noch heute denkt sie zeitweise an die Verhandlung zurück: "Es war wie in einer anderen Welt."