Auf die Welt kommen. Sagt man so schnell. Wunder – auch so ein Wort. Manchmal jedoch gleicht die Ankunft im Leben wirklich einem Wunder. Weil ihr ein Hürdenlauf vorausgeht. Nicht immer geht das gut aus. Und wenn doch, haben mitunter helfende Hände selbige im Spiel. So wie bei Nino.

Unbeeindruckt vom Stimmenkanon um ihn herum schläft der wenige Tage alte Säugling in den Armen seiner Mutter Bettina Meister. Draußen vor dem Neubau bekunden acht in den November-Rasen gesteckte Störche aus Holz Ninos Ankunft. Jetzt ist es das knapp vier Kilo leichte Kind, das die Herzen höher schlagen lässt. Dabei hatte wohl sein eigenes, und jenes seiner Mutter, schon aufgehört zu schlagen. Am 12. September.

Willkommensgruß der Oststeiermark
Willkommensgruß der Oststeiermark © KANIZAJ 2022; Marija Kanizaj

Nur manchmal, da streckt Nino ruckartig seine winzigen Arme und Beine von sich. "Ich frage mich dann, ob er sich an die Defibrillator-Schocks erinnert", grübelt Ninos Mutter Bettina. Ihr Gesichtsausdruck erzählt zugleich von Glück und Ungewissheit. Vom 12. September selbst kann die 34-Jährige nichts erzählen. Ihr fehlt jegliche Erinnerung daran.

Ein Zufall und eine Verwechslung

Der 12. September. Dass sich die Wege von Bettina, zu diesem Zeitpunkt in der 28. Woche schwanger, und Rebecca Hartinger am ersten Tag nach den Ferien vor der Schule Kirchberg an der Raab kreuzen, ist zwei Dingen geschuldet: Zufall und einer Verwechslung. Dass dies zwei Leben rettet, wissen allesamt in der Früh noch nicht, als sich die hochschwangere Frau mit ihrer Tochter Fabienne (10) "vor der falschen Klasse anstellt". Fabienne hat ihren ersten Tag in der Klasse B. Doch die beiden stehen dort, wo der Lehrer das Schild "C" hochhält.

Ersthelferin Rebecca Hartinger
Ersthelferin Rebecca Hartinger © KANIZAJ 2022; Marija Kanizaj

Dort steht auch Rebecca Hartinger. In der Früh ließen sie und ihr Mann die beiden Kinder entscheiden, wer wen in die Schule bringt. Tobias (6) entscheidet sich für Papa, Sarah (10) für Mama. "Ich wollte gleich wieder fahren, aber Sarah bat mich, zu warten, bis sie in der Klasse ist", erzählt die OP-Assistentin.

Was danach passiert, als aus dem vor Aufregung und Vorfreude elektrisierten Eltern-Kinder-Gewurle plötzlich das Wort "Hilfe" dringt, beschreibt Ersthelferin Rebecca Hartinger als "die längsten Minuten meines Lebens". Unmittelbar in ihrer Nähe ist zuvor Bettina Meister zusammengebrochen. "Ich habe meine Tasche fallen lassen und bin zu ihr gerannt." Erst, als sie der am Boden liegenden Frau die Jacke auszieht, sieht sie die Wölbung am Bauch. "In dem Moment dachte ich: Da liegen jetzt zwei Leben vor mir. Und, dass die Geburt gleich losgeht."

Während Bettina Meister anfangs noch kurz ansprechbar ist, verschlechtert sich ihr Zustand schnell. Sie wird bewusstlos. "Notarzt! Sofort!", hört die Ersthelferin ihren eigenen Schrei heute noch nachhallen.

Nur ein Kind blieb vor der Schule stehen

Umgehend bemüht sich das Lehrpersonal, Kinder und Eltern rasch ins Innere der Schule zu bringen. "Dann waren fast alle weg", erinnert sich die Helferin, "nur ein Mädchen blieb stehen." Es ist Fabienne, die Tochter, die um ihre Mama weint.

Gut zwei Monate später strahlt die Zehnjährige mit dem Weihnachtspulli, als sie daheim neben Ninos Wiege wacht und ihm leise zuflüstert: "Jetzt bist du endlich da, kleiner Zwerg. Du darfst ruhig weinen, damit ich dich rausheben kann." Seit sie sich erinnern kann, wünscht sie sich ein Geschwisterchen, erzählt Fabienne. Mit Puppen hat sie das Wechseln von Windeln und Stramplern geübt. Für sie zählt das Jetzt. Das ist spannend genug.

Dass es ein gemeinsames Jetzt gibt, liegt auch daran, dass an diesem 12. September alle Glieder der Rettungskette perfekt ineinandergreifen. Beginnend bei Rebecca Hartinger, die Fabiennes und Ninos Mama in stabile Seitenlage bringt, immer wieder die Mundhöhle freimacht und auf die bewusstlose Frau einredet: "Du musst stark sein! Du musst Luft holen, für dich und dein Baby!"

Sanitäter Markus Egger, am ersten Schultag ebenfalls zufällig in der Nähe, greift ebenso ein wie eine Frau, die Bettina Meisters Bauch hält, um dem Ungeborenen Wärme zu geben. "Obwohl die Rettung schnell da war, haben wir keine Lebenszeichen mehr gespürt", schildert Hartinger.
Herzstillstand. Die Rettungssanitäter und der aus Feldbach herbeigeeilte Notarzt Wieland Schmidt übernehmen die Herzmassage, sie intubieren, sie setzen mehrmals den Defibrillator ein. Der Rettungshubschrauber landet. Mit an Bord: Notarzt Friedrich Kaltenböck, dem es mit den anderen gemeinsam gelingt, die 34-Jährige nach einer Ewigkeiten gleichenden Dreiviertelstunde zu stabilieren. Und mit ihr auch Nino.

"Wir mussten vom Schlimmsten ausgehen"

"Wir wussten zu diesem Zeitpunkt aber nicht, wie es dem Baby geht. Wie lange die Gehirne von Mutter und Kind ohne Sauerstoff waren. Die große Frage war, wohin fliegen wir?", erzählt Kaltenböck. Er entscheidet sich für die erste Chirurgie am LKH-Uniklinikum Graz. Im Schockraum trommelt "Trauma-Leaderin" Barbara Hallmann in Minutenschnelle Intensivmediziner und Spezialistinnen für Geburtshilfe und Neonatologie zusammen. Ein OP-Saal für einen Akut-Kaiserschnitt steht bereit. "Wir mussten vom schlimmsten ausgehen."

Doch die fatalste Frage in einem Menschenleben, die nach dem "Entweder-oder", muss nicht gestellt werden. "Weil wirklich alle von Beginn an so perfekt reagiert haben", wie alle Ärzte betonen. Auch Kaltenböck sagt, dass er sich in 31 Jahren Zeit als Flugretter an keinen Fall erinnern kann, "der bei all der Dramatik so gut ausgegangen ist". Als Ursache wird eine "Elektrolyt-Entgleisung" vermutet, die Herzflimmern ausgelöst hat.

Bettina Meister mit Baby Nino, Partner Andreas Maier und Tochter Fabienne
Bettina Meister mit Baby Nino, Partner Andreas Maier und Tochter Fabienne © KANIZAJ 2022; Marija Kanizaj

Doch davon ahnt Ersthelferin Hartinger noch nichts, als sie im Schulhof nach dem Verstummen des Hubschraubers mit dem Handy der Patientin die Nummer hinter dem Wort "Schatzi" wählt. Es ist Bettina Meisters Partner Andreas, der beruflich auf dem Weg nach Wien ist. "Bis ich dann in Graz war, das waren die schlimmsten Stunden meines Lebens", erzählt er heute, wo er mit Nino im Arm gerade die schönsten Stunden erleben darf. Das Buch "Hilfe, ich werde Papa", das neben dem Fernseher steht – es sieht unbenutzt aus.

"Ist er noch da?" Und: "Wo ist meine Tochter?"

In den Tagen nach dem 12. September weicht er seiner Partnerin auf der Intensivstation nicht von der Seite. Am zweiten Tag erwacht sie aus dem künstlichen Tiefschlaf, hat nur zwei Fragen, während sie auf ihren Bauch greift: "Ist er noch da?" Und: "Wo ist meine Tochter?"

Eva Christine Weiss und Teresa Albori
Eva Christine Weiss und Teresa Albori © KANIZAJ 2022; Marija Kanizaj

Seit dieser Zeit begleiten sie Eva Christina Weiss und Teresa Albori von der Geburtshilfe-Station. Sie müssen sich in der ersten Woche täglich neu bei Bettina Meister vorstellen. Doch ab der zweiten Woche geht es bergauf. Erinnerungen kehren wieder.

Abgesehen von einem zweiten Hubschrauberflug am 6. Oktober (nachdem erneut Bettina Meistes Puls hochgeschnellt ist), verlaufen die Wochen bis zum geplanten Kaiserschnitt am 18. November frei von Problemen.

"Wir waren uns nur nicht sicher, wie es dem Buzzi nach der Geburt geht", räumt Eva Christine Weiss ein. Ninos Antwort: bestens. Und während man selbst auf den Spitalsgängen, wo der medizinische Alltag bisweilen einen Schutzmantel über Emotionen stülpt, das Wort "Wunder" hört, hat Bettina Meister zu Weihnachten nur einen Wunsch: "Einfach leben."

"Flug-Notarzt" Friedrich Kaltenböck mit Herbert Fluhr, Barbara Hallmann, Philipp Metnitz
"Flug-Notarzt" Friedrich Kaltenböck mit Herbert Fluhr, Barbara Hallmann, Philipp Metnitz © KANIZAJ 2022; Marija Kanizaj