Herr Professor, wie funktioniert Lernen aus der Sicht der Hirnforschung?

GERALD HÜTHER: Man kann Kinder durch Druck oder Strafandrohung zwingen, sich bestimmtes Wissen anzueignen. Man kann auch Belohnungen versprechen. So lernen Kinder aber nur, sich dem Druck immer geschickter zu entziehen oder mit möglichst wenig Aufwand immer größere Belohnungen zu bekommen. Beides sind Dressurverfahren, die zerstören, worauf es beim Lernen ankommt: eigene Entdeckerfreude und Gestaltungslust. Diesen Zugang über die Eigenmotivation suchen Bildungseinrichtungen und Eltern leider immer seltener. Die Potenziale der Kinder werden im Leistungsdruck erstickt. Schleppen Eltern ihr Kind noch von einer Fördermaßnahme zur anderen, hat es keine Zeit und Ruhe, etwas aus eigenem Antrieb zu leisten. Enorm wichtig sind Zeit und Raum zum eigenen Tun etwa beim Spielen. Spielen ist allerhärteste Lernarbeit.

Ist das eine neue Erkenntnis?

Wie wenig das in Wirklichkeit verstanden wird, erhärte ich gerne an einem Beispiel: Singen wird auch gern als nutzloses, unwichtiges Fach angesehen und fällt im Schulunterricht schnell unter den Tisch. Aus Sicht der Hirnforschung ist gerade Singen bestes Kraftfutter für Kindergehirne. Wer singt, hat aufgrund der Körperhaltung keine Angst: Der Kopf ist gehoben, der Brustraum geöffnet. Die Modulation der Stimmbänder ist hochdiffizil. Man lernt mit ihr Selbstwirksamkeit, eine ganz wichtige Frontalhirnfunktion. Man stimmt sich gleichzeitig auf andere ein, erlebt Empathiefähigkeit und Resonanz. Leider fängt es schon im Kindergarten an, dass lieber CDs eingelegt werden, statt zu singen. Eine Gesellschaft, die keinen Gesang mehr kennt, verliert aber die Kommunikationsform, in der sich Menschen über ihre Gefühle verständigen.

Was bedeutet das für die Schule? Müssen wir die neu erfinden?

Wir müssten die Schule besser an die Erfordernisse anpassen, die auf die Kinder zukommen. Unsere so in die Kritik geratene Schule ist ein logisches Produkt ihrer Entstehungszeit, dem Industrie- und Maschinenzeitalter. Da kam es in hohem Maße darauf an, später fast so wie Maschinen zu „funktionieren“, Pflichten zu erfüllen, wenig Fragen zu stellen. Diese Art von Arbeit stirbt bei uns aber aus. Unsere Gesellschaft braucht immer weniger fleißige Pflichterfüller, sie braucht dringend begeisterte Gestalter.

Sie sprechen von Superdoping und Dünger fürs Gehirn. Was ist der beste Dünger?

Es ändert sich nichts im Hirn, wenn man sich anstrengt. Auch nicht, wenn ein Kind sich Mühe gibt, wenn es Telefonbücher auswendig lernt oder Mathematikaufgaben löst. Es nützt auch kein Gehirnjogging.

Was also nützt?

Etwas, das uns weitgehend abhandengekommen ist: Begeisterung. Begeisterung ist der Zustand, in dem im Hirn die emotionalen Zentren aktiv werden. Das ist die Voraussetzung dafür, dass in den tiefer liegenden Bereichen des Mittelhirns Zellgruppen aktiviert werden – wir nennen sie emotionale Zentren. Das sind Zellen, die lange Fortsätze haben, und diese Fortsätze reichen in die höheren Bereiche des Hirns. Wenn man sich für etwas ganz besonders begeistert, werden Botenstoffe ausgesendet. Diese können andere Nervenzellen dazu bringen, dass sie nochmals Eiweiße herstellen, die sie brauchen, damit neue Kontakte zwischen Gehirnzellen entstehen.

Ihre These lautet: Was für ein Gehirn ein Kind bekommt, hängt davon ab, wie und wofür es sein Gehirn mit Begeisterung benutzt. Begeisterung formt das Gehirn?

Bei den 16-Jährigen wächst seit zehn Jahren jene Region des Gehirns immer stärker, die zuständig für die Regulation der Daumenbewegungen ist. Das kommt aber nicht von der Anzahl der SMS, die sie schreiben, sondern weil sie es mit dieser großen Begeisterung machen. Das ist der Schlüssel. Ich könnte ein halbes Jahr jeden Tag eine Stunde angeschnallt werden, um SMS zu verschicken, und es würde sich in meinem Gehirn nichts ändern. Weil mir die Begeisterung dafür fehlt.

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