Martin Luther, der Vorkämpfer der modernen Geistesfreiheit, der Schöpfer der deutschen Schriftsprache, der ewige Deutsche, hat die Welt nachhaltig verändert. Und dennoch: Einiges von dem, was ihm zugeschrieben wird, hat es bereits vor ihm gegeben. So hat um 1330 ein unbekannter Autor, der aufgrund sprachlicher Eigenheiten der „österreichische Übersetzer“ genannt wird, die Bibel ins Deutsche übertragen. Seine Motivation war dieselbe wie die Luthers: nämlich das Wort Gottes einer größeren Anzahl von Menschen zugänglich zu machen. Sein Pech: Erst 1455 erfand der Mainzer Johannes Gutenberg die beweglichen Lettern, wodurch Luthers Übersetzung zu einem Bestseller wurde. Die Bibel des Österreichers hingegen erlitt dasselbe Schicksal wie die anderen 18 vorreformatorischen Übersetzungen auch: Sie haben meist nur ganz wenige Abschriften geschafft.

Aber auch in seiner Theologie der Gnade hatte Luther im englischen Philosophen und Pfarrer John Wyclif einen Vorläufer. Dieser proklamierte Mitte des 14. Jahrhunderts die Lehre von der „Macht allein durch Gnade“, der zufolge Gott selbst jede Autorität direkt verleiht und dem Papst in Rom keine politische Macht zukommt.

Fegefeuer und Hölle

Luther ist ein Kind seiner Zeit, ein erfolgreiches Kind einer an Umbrüchen reichen Zeit, die im Jahr 1500 noch ganz den alten Werten verpflichtet ist. Am Heiligabend 1499 öffnet der Papst die eigens in den Petersdom gebrochene Heilige Pforte, indem er mit mehreren Schlägen seines goldenen Hammers an das Tor klopft. In diesem heiligen Jahr, dem achten in der katholischen Kirche, strömen Hunderttausende in die Heilige Stadt. Sie alle fürchten Fegefeuer und Hölle und nehmen den beschwerlichen Weg nach Rom auf sich, um durch den Segen „urbi et orbi“, der „Stadt (Rom) und dem ganzen Weltkreis“, von ihren Sünden befreit zu werden.

Seit mehr als 1000 Jahren regiert diese Kirche als Staatskirche und sie tut es in Berufung auf ihren göttlichen Gründer mit Macht und mit dem Anspruch, die allerhöchste Autorität zu vertreten: Kein anderer Kirchenführer steht über dem Papst und schon gar kein weltlicher Herrscher. Nur die Kirche allein hat das Recht, Christi Willen zu interpretieren. Sie diktiert sogar, wie die Menschen zu leben haben, und sie zeigt auf - siehe die Bilder von Hieronymus Bosch -, wie es den armen Seelen ergeht, wenn sie sich nicht an die Lehre halten: Sie drohen von riesigen Fischen verschlungen, in heißem Öl gesotten oder mit glühenden Zangen gezwickt zu werden.

Gespaltene Christenheit

Seit 1343 gibt es allerdings ein Gegenmittel gegen die drohenden Qualen: In einer päpstlichen Bulle wird festgelegt, dass das Leben Jesu Christi und jenes der Heiligen einen Schatz von Verdiensten angehäuft habe, den der Bischof von Rom einsetzen kann, um Gläubigen die Pein des Fegefeuers zu erleichtern. Allerdings ist diese Linderung nicht kostenlos, sondern man muss dafür Ablassbriefe erwerben. Es sind aber nicht nur die von der Kirche verbreiteten Ängste, auch die weltlichen Geschehnisse verunsichern die Menschen dieser Periode zutiefst: Am 29. Mai 1453 verliert die christliche Welt mit Konstantinopel ihre neben Rom bedeutendste Stadt an die Muslime. Und diese rücken weiter brandschatzend in Richtung Zentraleuropa vor. In Süditalien ermorden sie einen Erzbischof am Altar und metzeln 12.000 Christen hin. Aber all diese Bedrohungen vermögen Europa nicht zu einen. Ganz im Gegenteil: 1527 erobern deutsche und spanische Söldner Rom und rauben Kunstschätze aus den Kirchen und Klöstern. Auch sie töten im Verlauf dieses „Sacco di Roma“ Tausende Menschen.

Die Entdeckung der "neuen Welt"

Auch wenn die Kirche im heiligen Jahr 1500 noch auf unverrückbaren Fundamenten zu stehen scheint, so schrumpft ihre Macht doch deutlich: König Heinrich VIII. ernennt sich in London zum Oberhaupt der nationalen Kirche, der französische König nimmt sich das Recht heraus, selbst Bischöfe einzusetzen; und die spanischen Monarchen zwingen den Papst, ihm die Oberhoheit über Inquisition und Ritterorden abzutreten. Selbst die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 mag die Menschen der Alten Welt verunsichert haben.

In dieses Jahrhundert, in dem Katastrophen, Erfindungen und Entdeckungen eine stabile Welt verändern, wird Luther geboren. Es sind auch bei ihm Ängste, die sein Leben verändern. So geschehen am 2. Juli 1505, als er in ein heftiges Gewitter gerät. Ein Blitz schlägt neben ihm ein und wirft ihn zu Boden. In diesem Augenblick höchster Angst gelobt er, ins Kloster einzutreten. Am 17. Juli geht er dann durch die Ordenspforte bei den Augustiner-Eremiten und gibt sein bisheriges Leben samt dem Studium der Rechtswissenschaften auf. Die Ängste weichen freilich auch im Kloster nicht von dem 22-jährigen Mann - sie verlagern sich nur. Die zentrale Frage für ihn bleibt: Wie kann ich den strafenden Gott milde stimmen? Um das zu erreichen, beichtet er exzessiv - einmal gar sechs Stunden lang. Und als er das erste Mal die heilige Messe liest, bleibt er angesichts des allmächtigen Gottes, mit dem er sich in der Messe verbunden fühlt, mitten im Hochgebet stecken.

Tief verunsichert sucht Luther Trost. Diesen findet er in der Bibel. Sie wird zum Zentrum seines geistigen Lebens - er liest sie immer und immer wieder und interpretiert sie. Als er einmal mehr den Brief des Apostels Paulus an die Römer studiert, verfällt er auf eine Neuinterpretation des Verses 1,17, der lautet: „Denn im Evangelium wird die Gerechtigkeit Gottes offenbart aus Glauben zum Glauben, wie es in der Schrift heißt: Der aus Glauben Gerechte wird leben.“

"Die Tore des Paradieses"

Mit anderen Worten: Gerettet wird, wer an das Evangelium von Jesus Christus glaubt. Das heißt, Gott rechtfertigt den sündigen Menschen nicht wegen eigener Verdienste oder eines makellosen Lebens, sondern allein aus Gnade. Auf eigene fromme Anstrengungen und Verdienste zu vertrauen, ist also völlig aussichtslos. Nur das Vertrauen eines Menschen auf Gottes Gnade macht einen Menschen vor Gott gerecht. Mit dieser Erkenntnis erblickte Luther „das Licht der Welt“ neu und befreite sich von seinen Ängsten: „Da hatte ich das Gefühl, ich sei geradezu von Neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies eingetreten.“

Mit dieser Theologie wird für Luther aber auch bald klar, dass der Ablasshandel überflüssig geworden ist. Dieser besagt, dass ein Sünder durch die Geldzahlung eine Reduktion seiner Strafen im Fegefeuer erreichen kann. Und wer ordentlich gesündigt hat, hat auch ordentlich bezahlt, wie es ein Dominikanermönch formuliert: „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt!“

Aber die Kirche hat noch ganz andere Absicherungen gegen die Qualen des Fegefeuers parat: Mit den „Beichtbriefen“ kann man sich zwei Mal im Leben - zu einem beliebigen Zeitpunkt und in der Todesstunde - von allen Sünden freikaufen. Mit solchen „Freischeinen“ tauchen Wittenberger Gemeindemitglieder auch bei Luther auf und verlangen von ihm die völlige Vergebung ihrer Sünden. Dies nimmt der Mönch Luther zum Anlass, um seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 zu proklamieren.

Ob er diese tatsächlich an die Kirchtüre der Universitätskirche von Wittenberg genagelt hat, ist heute umstritten. Auf jeden Fall hat er sie als Grundlage für eine wissenschaftliche Disputation Herzog Albrecht von Brandenburg in einem Protestschreiben beigelegt. Der Inhalt der Thesen rüttelt so auf, dass sie wenige Wochen später in weiten Teilen Deutschlands und auch in der Schweiz verbreitet sind.

Kirchenbann und Häresie

Die lokale Kirche ignoriert die Thesen, regiert nicht, leitet sie aber nach Rom weiter. Dort befindet man, dass Luther sich im Oktober 1518 in Augsburg einem Gesandten des Papstes zu stellen habe. Bei dieser Befragung weigert sich Luther, seine Thesen zu widerrufen. Dann geht es Schlag auf Schlag. Am 15. Juli 1520 erlässt Papst Leo X. die Bulle „Exurge Domine“ („Erheb dich o Herr“), in der Luther der Kirchenbann angedroht wird und seine Lehre als häretisch gebrandmarkt wird. Wenig später gehen Luthers Schriften in etlichen Städten öffentlich in Flammen auf.

Luther selber, der 1517 die 95 Thesen in dem Glauben erstellt hat, die Kirche von innen her zu reformieren, hat sich bis 1520 zu einem heftigen Gegner des Papstes entwickelt, den er als „Antichrist“ bezeichnet. Zugleich hat er aber seine eigenen theologischen Gedanken vorangetrieben.

Diese lassen sich in drei Grundprinzipien zusammenfassen: Ganz wichtig ist Luther „sola scriptura“, wonach die Bibel mit ihren 66 Büchern die hinreichende Vermittlerin des Heils ist und es keiner Ergänzungen durch kirchliche Traditionen bedarf. Deshalb lehnt Luther auch das Sakrament der Priesterweihe oder der Krankensalbung ab. Sie wurden nämlich nicht von Christus selbst eingesetzt. Das zweite Prinzip ist jenes der Gnadentheologie, das besagt, der Mensch werde nicht durch eigene Verdienste, sondern allein durch die Gnade Gottes gerettet. Und Gottes Gnade erlange man „sola fide“, allein durch den Glauben. Daraus folgert Luther etwas Revolutionäres. Nämlich, dass alle Christen vor Gott gleich seien und deswegen auch der Papst nicht das Recht habe, letztgültig in Glaubensfragen zu entscheiden.

Der theoretischen Ächtung des Papstes folgt die Tat: Am 10. Dezember 1520 zieht Luther mit Wittenberger Studenten vor die Stadt hinaus und verbrennt dort das Kanonische Kirchenrecht sowie die Bann-Bulle, in der ihm der Kirchenbann angedroht wird. Rom gibt freilich auch nicht nach und exkommuniziert den Reformer am 3. Jänner 1521.

Der Reichstag zu Worms

Der nächste logische Schritt wäre dann die Reichsacht, die Luther für vogelfrei erklärt und die von Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, selbst angeordnet werden muss. Den rechtlichen Rahmen dazu bildet der Wormser Reichstag, zu dem sich 80 Fürsten und 130 Grafen eingefunden haben. Als Luther in einer Kutsche in die Stadt einfährt, erschallen Fanfarenklänge. „Ganz Deutschland ist in Aufruhr“, schreibt einer der beiden päpstlichen Gesandten nach Rom.

Trotz seiner Popularität ist die Situation für den Reformator nicht einfach: Widerruft er seine Schriften, dann hat der „Antichrist“ in Rom gesiegt. Bleibt er seinen Werken treu, droht ihm der Scheiterhaufen. Luther bleibt sich treu, was Karl V. veranlasst, „gegen den Ketzer“ vorzugehen. Aber immerhin steht der Kaiser zu seinem Versprechen des freien Geleits. So kann Luther unbehelligt nach Wittenberg zurückkehren. Plötzlich stellen sich in Kursachsen mehrere Reiter der lutherschen Kutsche in den Weg. Sie zwingen den Reformator auszusteigen, setzen ihn auf ein Pferd und bringen ihn auf Umwegen auf die Wartburg bei Eisenach - es war eine fingierte Entführung, um Luther dem Zugriff des Kaisers zu entziehen.

Auf der Wartburg wissen nur wenige um die wahre Identität des Gastes, der sich das Haar wachsen und als Junker Jörg ansprechen lässt.

Zurückgezogen übersetzt er in nur elf Wochen das Neue Testament. Mit dessen Publikation ist die Reformation nicht mehr aufzuhalten.