Es ist Donnerstagnachmittag im Zimmer 107, einem zum schnöden Konferenzsaal umfunktionierten Repräsentationsraum des barocken Kanzleramts, als ein Dutzend Journalistinnen und Journalisten plastisch wie kaum zuvor die zwei Seiten des Karl Nehammer vorgeführt bekommen.

Fast zwei Stunden hat der Bundeskanzler sich für ein neues Format Zeit genommen. Statt im Stakkato Serieninterviews zu seinem einjährigen Jubiläum zu geben – heute vor einem Jahr hat er die ÖVP-Führung übernommen, am Nikolaustag jährt sich seine Kanzlerschaft –, stellt sich der 50-Jährige in einem der deutschen Bundespressekonferenz nachempfundenen "Kanzlergespräch" einer offenen Fragerunde.

Weil das Verhältnis zwischen Politik und Medien, Wähler- und Leserschaft gerade schwierig ist – übergroße Nähe kostete gerade zwei Chefredakteure ihre Jobs –, holpert es schon im Vorfeld: Der Verein der Chefredakteure protestiert förmlich gegen selektive Einladungspolitik und die überlange "Sperrfrist", nach der über das Gespräch berichtet werden kann – beides wird eilig korrigiert –, und pocht darauf, dass künftig die Medien die Regeln für solche Formate festlegen sollten.

Als das Gespräch dann beginnt, erleben die Journalisten einerseits einen soliden – fast möchte man sagen: souveränen – Kanzler. Einen Nehammer, der routiniert die Botschaften unterbringt, die er zu seinem Jahrestag kommunizieren möchte: "Die Schengen-Blockade für Rumänien und Bulgarien bleibt aufrecht, bis die Zahl der unregistrierten Migranten sinkt, die über diese Länder kommen", gibt der Kanzler aus. Und: "Ich habe den Finanzminister angewiesen, noch vor Weihnachten ein Modell für einen neuen Heizkostenzuschuss im Umfang von bis zu 500 Millionen Euro auszuarbeiten."

Einen Nehammer, der gerne seine Politik im europäischen und internationalen Kontext erörtern kann – warum er trotz EU-Verfahren gegen Ungarn mit Ministerpräsident Orbán kooperiert ("wir können uns nicht aussuchen, wer unsere Nachbarn sind"). Einen Nehammer, der sichtlich stolz auf die Krisenbewältigung der vergangenen Monate und die Koalition mit den Grünen ist, weil sie "über ideologische Grenzen hinweg Lösungen findet": Bei Investitionen in Heer und Gasbeschaffung etwa, lobt der Kanzler, seien die Grünen über ihren Schatten gesprungen. Und einen Nehammer, der sich offener als bisher für Transparenzgesetze zeigt. Der Teufel liege im Detail, aber sein Ziel sei es, "in die Top drei im internationalen Ranking von Transparency International zu kommen", wo aktuell Staaten wie Dänemark liegen.

Ex-Offizier und Rhetoriktrainer

Das ist der Krisenkanzler Nehammer, eine Rolle, die der Ex-Offizier und Rhetoriktrainer auszufüllen weiß.

Aber da ist auch der andere Nehammer im Raum, der mit dieser souveränen Rolle so überhaupt nicht zusammenpassen mag. Der Chef einer von Korruptionsvorwürfen gebeutelten Partei ist, der ein klarer Schlussstrich schwerfällt. Der, gefragt, warum er den Kurz-Vertrauten Gerald Fleischmann, gegen den ermittelt wird, zum Kommunikationschef der Partei gemacht hat, ins Zynisch-Angriffige kippt: "Ich hab’ gar nicht gewusst, dass Sie so eine Angst vor dem Fleischmann haben", hält Nehammer den Journalisten entgegen, "fühlen Sie sich als Opfer von Fleischmann?" und "das ist ja schon fast ein Fetisch von Ihnen."
Ein Nehammer, der sich am Namen des ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschusses stößt – einen "Markenschaden" gebe es bei der Volkspartei auch deswegen. Und der mit resignierten Halbsätzen wie "alle, die sich überhaupt noch zur ÖVP bekennen" gegen Kriminalisierung verwahrt, wenn man ihn fragt, ob es ok sei, wenn sich ein Bewerber um die Leitung eines Finanzamts an den ÖVP-Klubchef wendet (gegen den ermittelt wird).

Nehammer sieht sich als Chef einer Partei "unter Generalverdacht", wie er es sagt. Ob das die Geschichte seiner Kanzlerschaft wird – oder doch seine Leistung bei der Bewältigung der Krisenlage –, lässt sich nach einem Jahr noch nicht beantworten.