Frau Rendi-Wagner, Sie sind Infektionsexpertin, waren Sektionschefin für öffentliche Gesundheit und Gesundheitsministerin – wie bewerten Sie die Entwicklung der Epidemie?

Pamela Rendi-Wagner: Die Regierung setzt auf Suppression, also auf Unterdrückung der Infektionen. Das ist richtig. Wir müssen alles tun, um ein explosionsartiges Ansteigen der Erkrankungen zu verhindern, die das Gesundheitssystem massiv überfordern könnten.

Was wäre denn Ihr Plan für die nächsten Wochen und Monate?
Tatsache ist, dass die Fälle in den nächsten Wochen ansteigen werden. Die Frage ist, wann Österreich den Gipfel an Erkrankungen erreicht und wie hoch er wird. Das weiß derzeit niemand – es gibt große Schwankungen in Modellen der Experten. Ich fordere seit Wochen, dass wir unsere Spitäler und Intensivstationen für diesen Gipfel rüsten. Das beginnt bei der Ausstattung mit Schutzausrüstung, Tests und natürlich Beatmungsgeräten.

Das klingt – wie bei den meisten Experten – danach, dass wir uns auf eine unbestimmte Zeit der Einschränkungen unseres Lebens einstellen müssen.
Wann genau dieser Gipfel der Ansteckungen kommt, kann niemand voraussagen. Aber wir müssen jetzt beginnen, den Weg zurück in die Normalität zu planen. Dafür braucht es einen Kompass – klare, transparente Kriterien, anhand derer entschieden wird, wann welche Maßnahme zurückgenommen wird. Die Regierung sollte Klarheit schaffen, auf welcher Basis sie Ausgangsbeschränkungen, Schulsperren, Geschäftsschließungen wieder aufheben und damit der Bevölkerung eine Perspektive geben wird.

An welchen Kriterien könnte sie sich dabei orientieren?
Drei wichtige Kriterien müssen auf alle Fälle berücksichtigt werden. Zum einen die Ausbreitung des Virus: Die Replikationsrate sollte unter eins sein – das heißt, dass jeder Infizierte nicht automatisch einen oder mehrere ansteckt. Zweitens braucht es Kontrolle darüber, ob das Gesundheitssystem genug Kapazitäten hat. Drittens die Immunität in der Bevölkerung: Es ist wichtig, zu wissen, ob wir in die Nähe einer Herdenimmunität kommen; die liegt zwischen 50 und 70 Prozent.

Wie kann man das feststellen?
Durch repräsentative Antikörpertests – zusätzlich zu den PCR-Stichproben, die die Regierung jetzt vornimmt. So kann man feststellen, ob es Personen gibt, die man gezielt etwa zur Betreuung von Risikogruppen einsetzen kann.

Testen wir jetzt schon genug?
Die Testregeln, die sogenannte Falldefinition des Gesundheitsministeriums, sollten dringend geändert werden. Vor zwei Tagen wurde mir von einem Fall berichtet, wo jemand tagelang Symptome hatte, die sich zunehmend verschlechterten, inklusive Atemnot. Er bekam aber keinen Test. Vor zwei Tagen ist er bei seiner Hausärztin unter schwerer Atemnot zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er war coronapositiv. Es müssten daher auch Menschen getestet werden, die Symptome haben, und nicht nur jene, die Kontakt zu einem positiv Getesteten hatten oder in einem Risikogebiet waren. Ganz Österreich ist inzwischen Risikogebiet.

Virologen warnen seit Jahren vor weltweiten Krankheitsszenarien. Hätte sich Österreich nicht schon lange auf eine solche Pandemie vorbereiten müssen?
Auf diese Dimension einer Gesundheitskrise kann sich kein Land zu 100 Prozent vorbereiten. Wichtig ist, dass man schnell aus Erfahrungen besonders betroffener Länder lernt und Empfehlungen der WHO ernst nimmt. Die WHO hat am 30. Jänner den Gesundheitsnotstand ausgerufen. Wenn wir jetzt feststellen, dass uns Schutzausrüstungen, Tests, Masken fehlen, ist das kein zufriedenstellender Zustand. Wir werden uns nach der Krise damit befassen müssen, wer dafür verantwortlich ist – aber diese Diskussion rettet jetzt kein Menschenleben, keinen Arbeitsplatz und schützt auch nicht vor einer Infektion.

Am Montag sind Rekordarbeitslosenzahlen veröffentlicht worden. Wie würden Sie denn mit diesem Anstieg umgehen?
Wir haben alle Hände voll zu tun, das Virus zu bekämpfen – aber wir müssen auch alles tun, um die sozialen Folgen zu bekämpfen. Wir dürfen niemanden zurücklassen – keine Erkrankten, keine Schüler, aber auch niemanden, der durch diese Krise seinen Job verliert. Es war richtig, dass die Gewerkschaft vorgeschlagen hat, das Arbeitslosengeld zu erhöhen. Wir werden das im Parlament fordern.

Fühlen Sie sich als Opposition gut in die Maßnahmen der Regierung eingebunden?
Bei der heutigen Sitzung im Nationalrat werden über 100 Gesetze geändert. Es müsste der Opposition möglich sein, diese Entwürfe rechtzeitig zu prüfen. Es geht nicht, dass Entwürfe mit dem Verweis auf bevorstehende Regierungs-Pressekonferenzen nicht übermittelt werden.

Gestern ist die Mitgliederbefragung der SPÖ zu Ende gegangen, die auch über Ihr Schicksal als Parteichefin entscheiden soll. Sie wird vorerst aber nicht ausgezählt – warum eigentlich nicht?
Der Parteivorstand, der das Ergebnis abnehmen muss, ist etwa 100 Personen groß – er kann damit erst nach Aufhebung des Veranstaltungsverbots zusammentreten. Deswegen ist die Auswertung eingefroren.