MICHAEL FLEISCHHACKER: Mit Putin verhandeln? Wird wohl wenig anderes übrig bleiben, würde ich sagen. Es sei denn, man wartet, bis es in Russland zum Umsturz gekommen ist (viel Spaß mit dem, was dann kommt, by the way), oder man lässt die wackeren Ukrainer kämpfen, bis die Russische Föderation bedingungslos kapituliert. Sehe ich momentan nicht, auch wenn die Schreibtischkrieger in Berlin und Wien feuern, was das Zeug hält.

ARMIN THURNHER: Es war wohl jedem klar, dass es so wird kommen müssen. Das Problem dabei ist nur: Wenn man, wie unsereiner, versucht, die Lage kühl einzuschätzen, kommt einem in den Weg, dass Kriegsberichterstattung dieser Tage weithin (nicht durchgehend) als eingebettete Propaganda stattfindet. Wer also sagt, man müsse mit Putin verhandeln, ist bereits ein Putin-Versteher und Feind des ukrainischen Volkes. Macht mir persönlich wenig, denn ich versuche, auch Selenskyj-Versteher, Biden-Versteher und Scholz-Versteher zu sein, ja, auch Nehammer-Versteher, wenngleich das mitunter am schwersten fällt.

FLEISCHHACKER: Sie sind eben ein altmodischer Kauz, lieber Thurnher, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Glauben Sie mir, die Zeiten, in denen man dachte, dass man als Journalist weder die Aufgabe hat noch die Ambition haben sollte, die Welt zu verbessern, aber alles, was man weiß und hat und kann und will, darauf zu verwenden, sie einigermaßen zu verstehen, sind vorbei. Heute ist Haltungsjournalismus angesagt, und um eine Haltung zu haben, muss man nichts wissen, im Gegenteil, je mehr man weiß, umso schwieriger wird es mit der Haltung. Besonders viel Weltanschauung findet man ja immer bei den Menschen, die die Welt besonders wenig anschauen.

Zwei Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine verhandelte der französische Präsident Emmanuel Macron mit Wladimir Putin in Moskau
Zwei Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine verhandelte der französische Präsident Emmanuel Macron mit Wladimir Putin in Moskau © AP

THURNHER: Hm, das führt uns auf ein anderes Gelände, und ich sehe schon, wie sich die Braue der fragestellenden Chefredaktion tadelnd hebt (Chefredaktionen muss man sich als höhere Wesen vorstellen, Sie und ich wissen das am besten). Aber um doch etwas dazu zu sagen: Ich denke, klassischer Journalismus und Haltung lassen sich sehr leicht verbinden, nur darf die Haltung dem Journalismus bei der Recherche nicht ins Handwerk pfuschen. Beim Kommentar und beim Essay aber durchaus, und auch wir zeigen trotz von Ihnen korrekt konstatierter fortschreitender Vergreisung immer wieder Haltung, nämlich der eine die, der andere jene. Aber wir werden beim Thema „Verhandeln mit Putin“ schon noch was finden, das uns entzweit!

FLEISCHHACKER: Chefredaktionen sind Wesen einer Zwischenwelt, in der eine Gleichzeitigkeit von Basisdemokratie und Gottkönigtum als Regierungsform installiert wurde, von wem, weiß man nicht, aber das gehört zum Mythos. Ich glaube, die Bereitschaft, auch Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die sich mit der eigenen Haltung nicht vereinbaren lassen, ist nicht nur für den Berichterstatter essenziell, aber auch für den Kommentator und Essayisten. Ich habe schon Chefredakteure kennengelernt, die sich von den Rechercheergebnissen ihrer Reporter in ihrer Meinung nicht erschüttern ließen, sich aber dafür feiern lassen wollten, dass sie die Veröffentlichung von Fakten großmütig gewährten, auch wenn sie der eigenen Haltung widersprachen. Beim Thema „Verhandeln mit Putin“ wird es vielleicht im Detail interessant, zum Beispiel bei der Frage, wer denn eigentlich mit ihm verhandeln soll und worüber.

THURNHER: Vielleicht muss man an dieser Stelle einrücken, dass Putin in völkerrechtswidriger und verbrecherischer Weise einen Krieg begonnen hat, der sich leider nicht nur zu seinem strategischen Vorteil auswächst, sondern auch zu dem der USA. Die Ukraine, das Opfer in diesem Stellvertreterkrieg, nennen wir ihn einmal so, hegt die Illusion, den Putin’schen Gebietsraub rückgängig machen zu können. Weil es ja vor allem darauf ankommt, wer bei Verhandlungen welche Ausgangsposition hat. Und jene Putins verbessert sich leider von Tag zu Tag. Neben der Ukraine ist die Europäische Union der zweite Verlierer dieses Kriegs. Ich bin selbstverständlich kein Stratege, aber kennen Sie welche, die annehmen, mehr Waffenlieferungen würden zu Gebietsrückeroberungen durch die Ukraine führen und so deren Position verbessern?

FLEISCHHACKER: Ich kenne einige Militärstrategen, die sagen, die Lieferung schwerer Waffen sei notwendig, um weitere Angriffe und Vorstöße zu verhindern oder zu verlangsamen und zumindest regional Rückeroberungsoffensiven zur Verbesserung der Verhandlungsposition zu ermöglichen. Und ich halte das für sehr plausibel. Denn die Vorstellung, dass man durch die Verweigerung von Waffenlieferungen den Krieg verkürzen und ukrainische Opfer vermeiden könnte, halte ich eher für zynisch als für naiv. Genauso zynisch ist freilich die ukrainische Propaganda, die auf eine Rückeroberung aller Gebiete inklusive der Krim im Sinne der territorialen Integrität abzielt. Das wird einfach nicht möglich sein. Und irgendwo zwischen diesen beiden Positionen wird man besser früher als später eine Möglichkeit finden müssen, den Krieg zu stoppen.

THURNHER: Es deutet also alles darauf hin, dass sich Putins Position nicht verschlechtern, sondern verbessern wird. Er hat Zeit abzuwarten, was nicht nur die Midterm-Elections in den USA, sondern gleich die nächsten Präsidentschaftswahlen bringen. Falls er sich doch zu Verhandlungen bereit erklärt, besteht das Glaubwürdigkeitsproblem. Was soll man ihm glauben? Putin meint zu gewinnen, indem er wartet. Der „Westen“ muss, um eine einigermaßen brauchbare Verhandlungsposition zu erreichen, auf einen langen Abnützungskrieg oder Guerillakrieg oder beides setzen, in der Hoffnung, dass Putin nach Jahren dann das Schicksal Leonid Breschnews nach Abzug der Russen aus Afghanistan ereilt. Wobei ich Ihrer Bemerkung zustimme: Es wird vermutlich niemand Besseres nachkommen.

FLEISCHHACKER: Wenn das so ist, wie Sie sagen, spricht das dann aber nicht erst wieder für Waffenlieferungen, um Putins Spielraum wenigstens auf dem Schlachtfeld einzuschränken? Oder sollen die Europäer den Ukrainern sagen, sie sollen auf die beiden Oblaste im Osten und die verlorenen Gebiete im Süden verzichten? Und würde man dann darauf vertrauen können, dass die neu gezogenen Grenzen von Dauer sind?

THURNHER: Selbstverständlich spricht es für Waffenlieferungen. Was soll man machen? Es ist eine verzweifelte, unauflösbare Situation, die keine Lösungen kennt, sondern nur schlechte und etwas weniger schlechte Alternativen. Was man sich wünschen muss: mehr Realismus aufseiten der Verbündeten und aufseiten der Europäischen Kommission. Soll eine Art Regimewechsel in Russland diesem Krieg folgen, dann braucht es eine Energiepolitik, die uns Europäern nicht nur den Pelz wäscht, sondern uns auch nass macht. Und es braucht in der EU politische Einigkeit Putin gegenüber. Auch diesbezüglich kommt nicht viel Optimismus auf. Trauriges Resümee: Man muss verhandeln, aber so schnell wird nicht verhandelt werden.