Zuletzt hatten nur die Generalsekretäre wie Lars Klingbeil gesprochen nach den Sondierungen. Der Freitag aber war ein Tag der ersten Reihe. Von „einer wirklichen Erneuerung“, sprach Grünen-Ko-Chefin Annalena Baerbock. Und der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner sah einen „Möglichkeitsraum, der neue Phantasien möglich macht“. Bei so vielen Superlativen mochte Olaf Scholz nicht zurückstehen. Der Sozialdemokrat kündigte das „größte Modernisierungspaket seit einem Jahrhundert“ an.

Scholz war gerade aus Washington zurückgekehrt von der Sitzung des Internationalen Währungsfonds (IWF). Dort war er noch als deutscher Finanzminister geladen. Aber bald könnte Scholz zum Bundeskanzler aufrücken. SPD, Grüne und FDP wollen nun nach den Sondierungen formelle Koalitionsverhandlungen aufzunehmen.

Kohleausstieg 2030, Mindestlohn, Abschaffung von Hartz IV

Schon kommende Woche sollen die Gespräche starten. Zuvor müssen die Parteigremien der drei Partner zustimmen. Eine „umfassenden Erneuerung des Landes“ verspricht das zwölfseitige Abschlusspapier der Sondierungen. In der Tat können sich die Zwischenergebnisse sehen lassen, die Scholz, Lindner und Baerbock am Freitag vorstellten: Kohleausstieg schon 2030 (ein Punkt für die Grünen), keine Steuererhöhungen (ein Punkt für die SPD), ein Mindestlohn von zwölf Euro (ein Punkt für die SPD) und Abschaffung von Hartz IV stattdessen kommt ein leistungsförderndes Bürgergeld (ein Punkt für alle – vor allem die Empfänger). Die Ampel schaltet auf Grün.

SPD, Grüne und Liberale meinen es wirklich ernst. Verhandlungen lebten davon, dass „jeder auch mal was gibt“, sagte Baerbock. Und auch die Grünen waren bereit viel zu geben. Ein Tempolimit für die Autobahnen findet sich nicht im Sondierungspapier. Es habe „lange Zeit keine vergleichbare Chance gegeben, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat zu modernisieren“, lobte Lindner, dessen Partei einer Erhöhung des Mindestlohns zustimmte. Dafür bleibt die Schwarze Null unangetastet. Die freilich könnte die EU bald lockern, schon nächste Woche legt Währungskommissar Paolo Gentiloni seine Vorschläge für eine Reform des Stabilitätspakts vor. Die Debatte auf europäischer Ebene darf dann eventuell Lindner als Finanzminister führen.

Scholz lobte die „wohltuende“ Atmosphäre der Gespräche. Sein Ziel hatte er schon zuvor in Washington präsentiert. Noch vor Weihnachten soll die neue Bundesregierung stehen. Aus einem doppelten Grund: Am 16. und 17. Dezember tagt ein EU-Gipfel in Brüssel, am 1. Januar tritt Frankreich die Ratspräsidentschaft an. Eine handlungsfähige Regierung wäre da von Vorteil. Kleiner Nebeneffekt: Kurz vor Weihnachten würde Angela Merkel Helmut Kohl als den am längsten amtierenden Bundeskanzler ablösen. Eine Fußnote im Geschichtsbuch, die vor allem die Liberalen gern löschen würden.

Gelöste Stimmung

Es war eine gelöste Stimmung in Berlin am Freitag. Ein Mann stand dabei strahlend am Rand. Das weiße Hemd, wie immer, leicht geöffnet: Lars Klingbeil, 43, seit vier Jahren Generalsekretär der SPD. Der Mann hat SPD-Chef Martin Schulz ebenso gedient wie seiner Nachfolgerin Andrea Nahles und zuletzt den Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Klingbeil hatte bei der Europawahl 2019 das schlechteste Wahlergebnis der SPD im Bund zu verantworten, seine beharrliche Arbeit hat aber auch den Erfolg bei der Wahl vor drei Wochen gebracht. Als einer der wenigen hatte er – wie Olaf Scholz – früh die Chancen erkannt, die sich aus Merkels Rückzug ergeben und auf ein Dreierbündnis jenseits der Union hingearbeitet. Nun ist auch Klingbeil kurz vor dem Ziel.

„Wenn diese Regierung klappen soll, dann ist Vertrauen ein wesentlicher Baustein“, hatte Klingbeil die Woche über mantrahaft erklärt. Gemeinsam mit Volker Wissing (FDP) und dem angeschlagenen Michael Kellner (Grüne) hatte er die Sondierungen vorangetrieben, Problem um Problem abgeräumt. „Wir können einen Beitrag leisten, politische Frontstellungen aufzuweichen und neue politische Kreativität zu entfachen“, heißt es im Positionspapier von Klingbeil und seinen Mitsondierern. Nun müssen in diesem Geist des neuen Miteinanders nur noch die Koalitionsverhandlungen absolviert werden.