Zu den Kollateralschäden der Corona-Pandemie gehört auch, dass über andere Katastrophen kaum oder gar nicht berichtet wird. Ist in der Ostukraine der Frieden ausgebrochen? Wie geht es den Armeniern, die aus Bergkarabach vertrieben wurden? Und wie weit ist die Zwei-Staaten-Lösung im Nahen Osten gediehen? Immerhin haben wir erfahren, dass die EU derzeit in einer „ernsten Krise“ steckt. Das an sich wäre noch keine Nachricht, denn wann stand das „europäische Projekt“ nicht auf der Kippe? Die Krise ist das, was die EU zusammenhält, egal, ob es der Brexit, das Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP oder der Kampf gegen den Klimawandel ist.

Nun aber könnte es tatsächlich ernst, sehr ernst werden, denn es geht um Geld, sehr viel Geld, alles in allem etwa 1,8 Billionen Euro, eine Zahl, die sich kein Mensch vorstellen kann. Diese 1,8 Billionen setzen sich zusammen aus über einer Billion Euro für die Finanzierung des Sieben-Jahre-Plans von 2021 bis 2027 und aus 750 Milliarden Euro für die von Corona gebeutelten Staaten, vor allem Italien, Frankreich und Spanien.

Die „Wiederaufbauhilfe“ wäre längst unterwegs, wenn nicht Polen und Ungarn ihr Veto gegen das ganze Finanzpaket eingelegt hätten, nachdem die EU-Kommission angekündigt hatte, Staaten, die sich nicht an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit hielten, müssten mit einer Kürzung der Subventionen rechnen. Gemeint waren – Überraschung! – Polen und Ungarn, gegen die von der Kommission bereits Disziplinarverfahren eingeleitet wurden, weil ihre Regierungen nicht so lupenrein demokratisch agieren, wie es sich für Angehörige der EU-Familie gehört.

Wie konnte es so weit kommen? Weil offenbar niemand in Brüssel damit gerechnet hatte, irgendein Land, das von der EU bezuschusst wird, könnte sich einer Order aus Brüssel widersetzen. Denn die EU ist nicht nur eine Wirtschafts-, sondern vor allem eine Wertegemeinschaft. Und welche Werte sie vertritt, entscheiden das ZK (die Kommission) und das Politbüro (der Rat) in Brüssel, mithilfe eines Quasi-Parlaments, das kein Initiativrecht hat, also keine Gesetze auf den Weg bringen kann, ähnlich wie die russische Duma und der chinesische Volkskongress.

Wie empört, entsetzt, geschockt und überrumpelt die EU-Kader angesichts des unbotmäßigen Verhaltens der Polen und der Ungarn waren, konnte man einem Interview entnehmen, das die deutsche EU-Abgeordnete Katarina Barley der „Augsburger Allgemeinen“ gab. Frau Barley ist die Vizepräsidentin des Europaparlaments, genauer: eine von 14 Vizepräsidenten und Vizepräsidentinnen, die den Proporz des Hohen Hauses verkörpern. In ihrem früheren Leben, das heißt in Berlin, war sie vorübergehend Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, geschäftsführende Bundesministerin für Arbeit und Soziales und Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz.

Die gelernte Juristin kann vieles, auch Europa. Kaum in Brüssel angekommen, wurde sie in das Präsidium des Europaparlaments befördert. Dort residiert sie nun und sagt, es gebe „die Überlegung, den Aufbaufonds als Vereinbarung zwischen den verbleibenden 25 Staaten zu konstruieren“, ohne Polen und Ungarn. Den Menschen in Ungarn werde es „immer klarer, wie isoliert ihr Land in Europa ist“, in Polen würden „70 Prozent der Menschen eine Bindung von EU-Geldern an Rechtsstaatlichkeit befürworten“. Es stimme zwar, „dass es Rechtsstaatsdefizite in allen EU-Staaten gibt“, „aber das  ist ja kein Argument, nichts zu tun“, zumal „Polen und Ungarn die einzigen Länder (sind), die die Europäische Union zu einer ‚illiberalen‘ Gemeinschaft machen wollen“.

Interessanter als das, was Katarina Barley in dem Interview sagte, war das, was sie nicht gefragt wurde: Warum die EU die „illiberalen“ Polen und Ungarn nicht gleich ausschließt, statt ihnen die Zuschüsse zu kürzen? Und wer die Umfrage veranlasst hat, die ergab, dass 70 Prozent der Polen eine Bindung von EU-Geldern an Rechtsstaatlichkeit befürworten? War es vielleicht das Büro der EU-Kommission in Warschau?

So bestätigt die stellvertretende Vorsitzende des Europaparlaments, was nicht nur Polen und Ungarn befürchten: Dass Brüssel die Kommando-Zentrale einer Europäischen Union werden könnte, die so funktioniert wie einst der Warschauer Pakt: autoritär, rücksichtslos und zentralistisch. Wobei die Fiktion einer „internationalen Solidarität“ durch die Idee der grenz-überschreitenden „Rechtsstaatlichkeit“ ersetzt wird, die wie ein One-Size-Fits-All-Sweatshirt allen Teilnehmern übergestülpt werden kann.

Wie fragil die Fiktion einer „internationalen Solidarität“ ist, haben wir vor Kurzem erfahren. Ein ungarischer Abgeordneter im Europaparlament wurde buchstäblich mit heruntergelassenen Hosen bei einer Herren-Sex-Party erwischt. Da er in Budapest gegen Homosexualität agitiert, war die Häme in Brüssel grenzenlos. Heuchler!, tönte es ihm entgegen. Als ob Heuchelei nicht das Geschäftsmodell der EU wäre.

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Henryk M. Broder ist Kolumnist der „Welt“, „Weltwoche“ und Kleinen Zeitung.