Emmanuel Macron sparte nicht mit düsteren Warnungen. Der Libanon riskiere einen erneuten Bürgerkrieg, wenn er in dieser Krise allein gelassen werde, mahnte der französische Präsident. Vier Wochen nach der Megaexplosion im Hafen reiste er am Montagabend zum zweiten Mal nach Beirut, um der herrschenden Klasse erneut ins Gewissen zu reden. Vorab ließ er der libanesischen Staatsspitze ein zweiseitiges Reformkonzept zustellen, das ein Ende des konfessionell-politischen Proporzsystems, einen Kassensturz der Staatsfinanzen und eine Generalreform des Bankensektors fordert.

Der Staatschef der einstigen Kolonialmacht Frankreich plädiert für eine radikale politische Zäsur im Libanon - eine überkonfessionelle Regierung mit zeitlich begrenzten Sondervollmachten sowie Neuwahlen innerhalb eines Jahres. Sonst bleiben die internationalen Milliarden für den Wiederaufbau gesperrt. „Es gibt keine Blankoschecks“, erklärte Macron. Bisher erhielt der Libanon lediglich eine Nothilfe von 250 Millionen Euro, um für die nächsten Monate Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff einzukaufen.

Wolkige Lippenbekenntnisse

Doch die politische Klasse des Zedernstaates, der am Dienstag seinen 100. Gründungstag begeht, sträubt sich. Mit wolkigen Lippenbekenntnissen versucht sie, dem stürmischen Gast aus Paris den Wind aus den Segeln zu nehmen. Präsident Michel Aoun deutete am Wochenende an, das politische System müsse geändert werden, ohne zu präzisieren, ob damit auch die Aufteilung der staatlichen Spitzenämter auf die Konfessionen gemeint ist. Bislang stellen die Christen den Staatspräsidenten, die Sunniten den Ministerpräsidenten und die Schiiten den Parlamentspräsidenten. Ungerührt nominierte ein Zirkel früherer sunnitischer Premierminister den libanesischen Botschafter in Deutschland, Mustapha Adib, für das Amt des Regierungschefs, einen Schritt, den die Protestbewegung sofort als Fortsetzung des gescheiterten Proporzsystems ablehnte. Nach seiner Wahl im Parlament versprach der 48-Jährige, „in Rekordzeit eine Regierung zu bilden und mit zentralen Reformen zu beginnen, um das Vertrauen der Libanesen und der internationalen Gemeinschaft zurückzugewinnen“.

Ersparnisse vernichtet

Der Zusammenbruch des Bankensystems hat die Ersparnisse der meisten Libanesen vernichtet, während die Oligarchen ihre Millionengewinne aus den betrügerischen Schneeballzinsen längst ins Ausland verschoben haben. Dadurch sei eine Situation entstanden, urteilte Macron, „in der es praktisch keine politische Erneuerung gibt, und Reformen nahezu unmöglich sind“. Die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) treten seit Monaten auf der Stelle. Am Wochenende warf zum dritten Mal ein libanesischer Unterhändler aus Protest das Handtuch. Als Alternative brachte die Hisbollah chinesische Kredite ins Spiel, weil Peking – anders als Europa und die USA - keine politischen Vorbedingungen stellt. Auch eine internationale Untersuchung der Explosionsursache wird von Beiruts Machtclique nach wie vor blockiert.

Derweil versuchen Immobilienhaie, aus der Misere ihrer Landsleute Kapital schlagen. Sie schwärmen aus, um verwüstete historische Gebäude zu Spottpreisen aufzukaufen, deren Besitzer kein Geld für Reparaturen haben. Der maronitische Patriarch Bechara el-Rai warnte vor „Geiern über der Stadt“. Und immer mehr Menschen resignieren. Sie glauben nicht, dass der Libanon noch eine Zukunft hat. Länder wie Kanada werden mittlerweile überschwemmt mit Visaanträgen junger Libanesen, die auswandern wollen.

Gleichzeitig gehen die Coronaziffern steil nach oben. Ende letzter Woche überstieg die Gesamtzahl der Erkrankten erstmals die Marke von 15.000. Jeden Tag kommen im Durchschnitt 600 neue Fälle hinzu, auf Deutschland umgerechnet entspräche das 8000 Neuinfektionen pro Tag. Seit einer Woche gilt ein erneuter Lockdown - und das inmitten einer Katastrophe, die ein Drittel der Hauptstadt zerstörte. Mindestens 300.000 Menschen verloren ihr Dach über dem Kopf. Viele haben kein fließendes Wasser. Die Krankenhäuser können keine weiteren Schwerkranken mehr aufnehmen, die deswegen in der Obhut ihrer Familien bleiben müssen. Vereinzelt berichteten Angehörige auf Twitter, das Gesundheitsministerium habe sie angerufen und gedrängt, auf dem Totenschein „Covid-19“ als Todesursache eintragen zu lassen. Auf diese Weise will das Ministerium offenbar die Statistik der Pandemie-Todesfälle in die Höhe treiben, um mehr Soforthilfen von der Weltbank zu kassieren.