"Schauen Sie! So grün leuchtet das Wasser des Canal Grande sonst nie!“ Mit einladender Handbewegung weist Helene Molinari von der Ponte dell´Accademia auf die im Mittagslicht nahezu Wörthersee-türkise und fast verkehrsfreie Wasserstraße. Nur ein spärlich besetzter Traghetto pflügt langsam vom Palazzo Venier dei Leoni, der Collezione Peggy Guggenheim, in Richtung der Basilika Santa Maria della Salute. Der Madonna hatte 1630 der Doge Nicolò Contarini eine Kirche am Bacino di San Marco gegenüber dem Dogenpalast gelobt – mit der Bitte um Beendigung der Pest, die in der Stadt 46.000 Menschen, ein Drittel der Bevölkerung, dahingerafft hatte.

34.223 Corona-infizierte Menschen starben bis zum Wochenende in Italien, und in Venedig hat das Virus außerdem den Einfall der Massen aus aller Welt hingerafft, jedenfalls vorübergehend. „Der Massentourismus ist Geschichte“, beteuert aber Molinari. „Die Kreuzschifffahrt ist tot, sie weiß es nur immer noch nicht“, sagt sie. Die Ex-Managerin aus der Finanzbranche knüpft nun mit ihrem bis in die EU-Spitze reichenden Netzwerk Pläne für ein „Projekt Serenissima“: „Venedig soll Pilotstadt der Welt werden für Humanität in Harmonie mit der Natur.“
Derzeit herrscht noch Agonie, aus der die Lagunenstadt erst langsam erwacht. Der Markusplatz, wo nach Jean Cocteau die Löwen fliegen und die Tauben spazieren, ist jetzt auch ohne Hochwasser fast menschenleer zu genießen. Im mächtigen Geviert von Markusdom und Prokuratien erscheint der überrannteste Nabel der Welt wie ein überdimensionierter Hauptplatz einer Kleinstadt.

Markusplatz
Markusplatz © Adolf Winkler

Schönstes Wohnzimmer der Welt

Das schönste Wohnzimmer der Welt empfängt die Vorhut an Touristen, die das leere Venedig bestaunen wollen, wie ein Riesenstadion für ein Geisterspiel von Historie und Architektur. Venedigs Bürgermeister Luigi Brugnaro verspricht ihnen „ein einmaliges Venedig, die Möglichkeit, ein Freilichtmuseum zu besuchen.“
Am Freitag hat das museale Caffé Florian – nach Lockdown ausgerechnet im 300. Jahr des Bestehens – die Tore wieder geöffnet und die Tische herausgeräumt. „Wir müssen die zum Jubiläum geplanten Events auf 2021 verschieben“, erzählt die Sales- und Marketingchefin Christina Rivolta.

Kunden aus aller Welt hätten Zuspruch gemailt und nach dem Restart gefragt. Bald erwartet man aber wieder Gäste, wobei das Caffé Florian seine nicht als Massen verstehe, wie Rivolta betont. „Wir können nur warten. Im Juli soll es wieder erste Passagierflüge aus China geben.“
Darauf hoffen jedenfalls auch die Verkäufer an den Souvenierständen entlang des Bacino di San Marco. Vermutlich wird an keinem anderen Ort der Welt derart viel in China erzeugter Ramsch von derart vielen chinesischen Touristen wieder nach China mitgenommen. Über diese verrückte Komödie kann Carlo Goldoni derzeit erhaben unbehelligt auf seinem Sockel auf dem Campo San Bartolomeo nur lachen. Sonst vergeht es ihm tagein tagaus im Geschiebe der Massen.

Etliche sperren nicht mehr auf

Hier, in der Mercerie zwischen Markusplatz und Rialto, stand bei Aqua Alta in den Geschäften das Wasser einen Dreiviertelmeter hoch. Jetzt steht es den Geschäftsinhabern bis zum Hals. Für viele Läden fiel das Geschäft seit November aus. Etliche sperren gar nicht mehr auf. In der sündteuren Calle Larga späht das Verkaufspersonal italienischer Edelmarken mit stoischem Blick vergebens nach Kunden in der leer gefegten Straße. Es ist die andere Seite des Erlebnisses, das jetzt auch österreichische Tagesbesucher noch vor der Aufhebung der Quarantänepflicht bei Rückkehr aus Italien in der Lagunenstadt suchen.
Sogar die Gondeln – reihenweise mit dunklen Planen abgedeckt – tragen Trauer. Auch in den von weißen Hortensien duftenden Giardini  Reali liegen sie wie Corona-Särge im Kanal, über den einst Sissy aus der Prokuratur über eine Zugbrücke zu flanmieren pflegte. Normal sitzt man bei Cappuccino auf der  Terrasse des Hotels Monaco erste Reihe fußfrei für das große Kino der Gonolieri. Nun ist das Monaco, so wie daneben das jüngst von René Benkos Signa Prime gekaufte Nobelhotel Bauer, noch zu und die Gondolieri teilen an der Gondelstation Salami, Prosecco und Leid.Die 344 zugelassenen Gondolieri Venedigs hält die staatliche Coronahilfe jedenfalls nicht über Wasser. „Bei euch in Österreich wird Familien geholfen“, glaubt Giorgio allen Ernstes. „Wir hier müssen mit 600 Euro Coronageld im Monat auskommen.“

So wenig wie für kleine selbstständige Händler. „Gottseidank müssen auch die Venezianer essen“, sehen sich die Venditore im Formaggio-Laden am Rialto-Markt, die das Schneiden der Mortadella als Kunstwerk zelebrieren, noch über die Runden gekommen. Auch Stella hadert in ihrem kleinen Modeladen in Dorsoduro nicht, im Gegenteil: „Die Corona-Schließung war fantastisch. Wir Bewohner haben uns endlich wieder selbst gespürt.“

Obwohl man in dem Künstler- und Galerienviertel auch bisher das relativ ruhige Venedig erleben konnte. „Es war magisch!“ schildert Gigi Bon. „Am Tag der Corona-Schließung hörte man nur die Möwen und die Glocken der  Kirchen“, beschreibt sie in ihrem Studio Maraviglia das Wunder der Stille in  Venedig. Gigis Familie reicht weit zurück. „Es wird gesagt, dass die Vorfahren einst die Gebeine San Marcos von  Konstantinopel nach Venedig brachten.“ Die pensionierte Richterin hat sich als Künstlerin dem vom Aussterben bedrohten Rhinozeros verschrieben. „Wenn wir das Rhinozeros und Venedig nicht retten können, was können wir dann überhaupt retten!?“

"Die Menschheit ist nur ein Augenblick"

„In all den hunderten Millionen Jahren Erdgeschichte ist die Menschheit ein Augenblick“, erklärt Serenissima-Visionärin Helene Molinari unter schattenspendenden Bäumen auf dem Campo Santa Margherita. Hier entfaltet das durchlauchtigste Venedig kleinstädtischen Charme mit Einwohnern unter sich, dem Fischhändler mitten am Platz und dem Gemüsehändler auf dem Boot im Kanal ums Eck.

Helene Molinari
Helene Molinari © Adolf Winkler

„Venedig kann wie eine Margerite der Welt von morgen zeigen, was möglich ist, jeder Stadtteil wie ein Blütenblatt der Margerite in einem Thema, vom regionalen Essen bis zur Gesundheitsvorsorge. An der Natur ist schon so viel zerstört, dass Nachhaltigkeit nicht genügt, sondern Regeneration notwendig ist“, postuliert Molinari.

Für Gigi Bon, die sich selbst an den Schwimmprotesten gegen die Kreuzfahrtschiffe beteiligt hat, ist klar, dass Kreuzfahrtschiffe in der Lagune nichts mehr verloren hätten.

Gigi Bon
Gigi Bon © Adolf Winkler

"Wir sind nicht die Verpesteten!"

Man mag österreichische Gäste, weil sie wegen der Kultur kommen würden, auch wenn keine Biennale laufe. Man schimpft auf die Regierung in Rom und lobt die des Veneto. Präsident Luca Zaia prangert Giuseppe Conte an und beklagt sich über die österreichische Bundesregierung. „Wir sind nicht die Verpesteten Europas, sondern Nachbarn!“
Man weiß, wie sehr die Österreicher die Adria lieben und wie sehr man sie als Gäste braucht. Draußen am Lido rührt sich schon sommerlicher Betrieb, nur das Filmstardomizil Excelsior wartet mit der Öffnung noch drei Wochen, ehe bald Ferragosto der Noblen einkehren darf. In Lokalen und am Strand, noch ausgedünnt zwar, herrscht völlig Corona-entspannte Vacanze-Stimmung. Von hier hätte sich Emil Lanz in Gerhard Roths Roman „Die Hölle ist leer, die Teufel sind alle hier“, jedenfalls nicht davongemacht, um sich aus der Welt zu befördern.

Gondoliere Giorgio
Gondoliere Giorgio © Adolf Winkler

Die Gondolieri glauben aber zu wissen, „dass im August wieder die ersten Kreuzfahrtschiffe nach Venedig kommen,“ so Giorgio, „wie vor Corona, wenn auch weniger.“ Bürgermeister Brugnaro sieht Corona als Anstoß für einen Qualitätstourismus, der die Einmaligkeit der Stadt respektiere.
Helene Molinari spannt den Blick über Corona hinaus bis zur Mee-too-Bewegung, Pädophilie-Enthüllungen in Kirchenbereichen und den Black-Lifes-Matters-Protesten: „Die Welt reinigt sich.“

Mehr zum Thema