Berlin, München, Köln, Dortmund - In vielen deutschen Städten trugen am vergangenen Wochenende Menschen ihren wachsenden Unmut über die Corona-Restriktionen auf die Straße. Viele von ihnen weder mit Abstand noch mit Maske. 

Eine lebendige Protestkultur und eine kritische Auseinandersetzung mit politischen Maßnahmen ist unerlässlich für eine funktionierende Demokratie. Doch die Sorge um die sogenannten Hygiene-Demos wächst, denn sie bieten Verschwörungstheorien eine Bühne, die sich jenseits jeglicher wissenschaftlicher Belegbarkeit bewegen. Auch die Alternative für Deutschland, die in ihrem größten Umfragetief seit ihrer Gründung vor 7 Jahren steckt, versucht die Proteste zu instrumentalisieren. 

Die Demonstranten wollen sich gegen eine angebliche Impflicht wehren. Diese war politisch aber nie im Gespräch. Zudem könnte es noch Monate oder Jahre dauern, bis ein Impfstoff verfügbar ist.
Die Demonstranten wollen sich gegen eine angebliche Impflicht wehren. Diese war politisch aber nie im Gespräch. Zudem könnte es noch Monate oder Jahre dauern, bis ein Impfstoff verfügbar ist. © (c) EXPA/ Eibner-Pressefoto (EXPA/ Eibner/ Dimitri Drofitsch)

Der Chef des deutschen Bundeskriminalamtes Holger Münch sieht eine wachsende Bedrohung in den Versammlungen und warnt vor einer Radikalisierung. Die Wahrscheinlichkeit, “dass das zu einem wirklich ernsthaften Problem werden kann”, steige mit abnehmender Akzeptanz der Maßnahmen. Zudem sieht er ein großes Problemfeld darin, dass immer mehr Deutsche ökonomisch von den Restriktionen betroffen sind und ihren Job verloren haben, oder Geldeinbußen durch Kurzarbeit haben. Mit steigender ökonomischer Prekarisierung, so sagt er, steige auch die Anfälligkeit für die kruden Theorien der Hygienedemo-Organisatoren. 

Industrie-Standort Stuttgart besonders betroffen

Warum es am schwäbischen Industrie-Standort, der Landeshauptstadt Stuttgart, den größten Zulauf gibt, ist bisher noch unklar. Zwar habe es auch in dieser Region einen “ordentlichen Ruckler” in Sachen Arbeitslosenquote und Kurzarbeit in der Auto-Region Stuttgart gegeben, bestätigt die Pressesprecherin der Stuttgarter Agentur für Arbeit Doris Reif-Woelki der Kleinen Zeitung im Gespräch, es gebe aber durchaus in Deutschland noch viele andere Regionen, in denen die Lage schon vor der Krise schlechter gewesen sei. Auch liege die Quote nicht über dem bundesdeutschen Schnitt. Baden-Württemberg und Bayern weisen traditionell sogar eine relativ niedrige Arbeitslosenquote auf.

Demonstranten lassen sich politisch schwer einordnen

Man lasse sich weder von Links noch von Rechts unterwandern, erklärten die Initiatoren der bislang größten Demonstration in Stuttgart. Und in der Tat ist es schwierig, die Demonstrationsteilnehmer entlang einer Rechts-Links-Achse genau einzuordnen. Es tummeln sich Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Gegner der Schulmedizin in der Menge der Protestierenden. Ralf Ludwig, einer der Stuttgarter Organisatoren, will “Widerstand 2020” zu einer Partei machen, der Antrag liegt dem Bundeswahlleiter laut Informationen des Redaktionsnetzwerk Deutschland bereits vor. 

Ludwig sagte in seinem Redebeitrag:

Ein gesunder Organismus würde Viren und Bakterien selbst eliminieren, und das wollen wir mit dieser Partei erschaffen. Wir wollen eine Einheit werden.

Diese Formulierung erinnert nicht nur entfernt an den Begriff des Volkskörpers, der zentral in der nationalsozialistischen Rassentheorie war.

Thüringens Minister Ramelow (Linke) äußerte sich, nebst vielen anderen Politikern, besorgt und zeigt sich distanziert. Man müsse aufpassen, ”wo sich Pegida und AfD, bürgerliche Sorgen und Existenzsorgen vermischen”, sagte er der taz. Linken-Parteivorsitzender Riexinger mahnte von den Länderchefs größere Transparenz in Sachen Corona-Maßnahmen ein, um Verschwörungstheorien den Nährboden zu entziehen.

Scharfe Kritik kommt auch aus den Reihen der CDU:

Die Redner in Stuttgart

Wir haben uns mehrere Redner der Stuttgarter Demo einmal genauer angesehen. Was sich auf den ersten Blick zeigt: Die Behauptung, man lasse sich nicht von Rechten unterwandern, hält nicht stand. Die Organisatoren baten nicht wenige AfD-nahe Sprecher aufs Podium:

Grazer Demonstration angemeldet

Auch in Österreich sind die Demonstrationen angekommen und auch hierzulande gibt es Verstrickungen zu Organisationen, die Fake News und Verschwörungstheorien verbreiten. Anmelder der Demonstration ist Daniel Stoica. Stoica ist ein Anhänger von Dr. med. Mag. theol. Ryke Geerd Hamer und hält Vorträge zu Hamers Theorie der “5 biologischen Naturgesetze”. Der deutsche Arzt Hamer propagierte seit 1981 die von ihm erfundene Behandlungsmethode der “neuen Germanischen Medizin”, die medizinisch unwirksam und in vielen Fällen gefährlich war. Schlussendlich wurde ihm die Approbation entzogen. In den Medien wurde Hamer oft reißerisch als der Wunderheiler bezeichnet. Auf der Ankündigung zur Demonstration, die am 23.05 in Graz stattfinden soll, wird ein Spendenkonto angegeben, auf denen Teilnehmer für Stoicas Organisation spenden können, die Hamers Thesen unterstützt.

Nährboden für Antisemitismus

In Hamers Gedankengut findet sich eine krude Melange aus Unwissenschaftlichkeit und Antisemitismus. So sprach er zu Lebzeiten beispielsweise von der "jüdische Schulmedizin" und behauptete, dass der Mensch in der Lage sei, sich selbst zu heilen. Diese gefährliche Tendenz zum Antisemitismus lässt sich leider auch in der gesamten Bewegung beobachten: Plakatsprüche und Parolen strotzen nur so vor NS-Referenzen. Ein bekannter Vertreter der deutschen Bewegung, der vegane Koch Attila Hildmann, sprach auf einer Versammlung sogar davon, dass es nötig sei, bewaffneten Widerstand zu leisten und sorgte für eine zunehmend aggressive Stimmung. Zudem behauptete er, seit der Ausbreitung des Coronavirus die Machtübernahme 1933 besser verstehen zu können. 

Stoica erklärt im Gespräch mit der Kleinen Zeitung, dass der "Corona-Wahnsinn" endlich aufhören müsse und er deswegen demonstrieren geht. An die Gefährlichkeit des Virus und die Notwendigkeit des Lockdowns glaubt er nicht. "Ich bin zwar Elektriker, aber ich beschäftige mich schon lange mit Medizin", erklärt er am Telefon. Nach der Grazer Demo will er auch in Linz und Wien protestieren. Er erwartet um die 400 Teilnehmer, allein 300 Personen aus seinem Verein hätten bereits zugesagt.