Die Alliierten feierten ausgelassen ihren Sieg. Nach wochenlangen Kämpfen in der Grenzregion zwischen Syrien und Irak verkündete die mit den USA verbündete Syrische Demokratische Armee (SDF) einen welthistorischen Moment. Das Dorf Baghus konnte aus den Fängen der Terrororganisation „Islamischer Staat“ befreit werden. Es war die letzte Bastion, der letzte Rückzugsort derJihadisten nach dem langsamen Zerfall ihres selbst ernannten Kalifats.

50 und 300 Millionen Dollar in Kriegskasse

Damit enden fünf Jahre Terrorherrschaft auf einem Gebiet, das in seiner größten Ausdehnung etwa die Ausmaße Österreichs angenommen hatte. Was jetzt noch übrig ist von der Terrormiliz, befindet sich in den Weiten der Badia-Wüste, in Schläferzellen in Syrien und im Irak, in Verstecken überall auf der Welt. Es dürfte nicht wenig sein, schätzen Militärs, Experten der Vereinten Nationen und Politikanalysten. Allein die Kriegskasse dürfte zwischen 50 und 300 Millionen Dollar enthalten. 5000 bis 6000 Kämpfer bekennen sich noch zum IS und sind auf der Flucht.


Am Ende sind es zwei Daten, die in die Weltgeschichte eingehen werden. Am 29. Juni 2014 ruft Abu Bakr al-Baghdadi ein Kalifat auf dem eroberten Territorium im Irak und in Syrien aus und nennt sich Kalif Ibrahim – Führer der Gläubigen. Knapp fünf Jahre später am 23. März 2019 endet der Phantasiestaat mit einer militärischen Niederlage. Ob Baghdadi noch am Leben ist und von seinen Getreuen aus Baghus gebracht wurde oder die vielfachen Spekulationen über seinen Tod stimmen, ist völlig unklar.


Besiegt sein dürfte der IS jedenfalls noch lange nicht. Davon geht nicht nur der Terrorismusexperte Peter R. Neumann vom Londoner King’s College seit Jahren schon aus. Er sieht zwar den Enthusiasmus der Anhänger gedämpft, die Kämpfer demoralisiert und die Netzwerke des IS geschwächt. Dennoch spricht der Politikprofessor davon, dass sich der Widerstand und Terrorismus im Untergrund neu organisieren wird. Seit 2015 setzt der IS auch auf weltweite Anschläge.

Abu Bakr al-Baghdadi hat am 29. Juni 2014 das Kalifat ausgerufen
Abu Bakr al-Baghdadi hat am 29. Juni 2014 das Kalifat ausgerufen © APA/AFP



Neumanns Institut für das Studium von Radikalisierung und politischer Gewalt (ICSR) hatte 2017 die Finanzströme des IS analysiert und kam zum Ergebnis, dass Steuern und Abgaben auf dem verwalteten Gebiet 2016 sogar die Öleinnahmen überstiegen. Die Terrororganisation hatte auf dem Höhepunkt ihrer territorialen Eroberungen staatliche Strukturen aufgebaut, inklusive Gerichtsbarkeit, Passausgabe und Maut auf Straßen. Neben dem ständigen Zufluss von ausländischen Kämpfern, die sich mit der Ideologie des IS und der Idee eines Gottesstaates identifizieren konnten, führten die hohen Einnahmen zu einer starken militärischen Verteidigungskraft.

Mit Massenhinrichtungen, Vertreibung von Minderheiten, einem brutalen Scharia-Recht und digital ausgeklügelter Propaganda sicherten sich die Schergen ihre Macht über zwischenzeitlich mehr als sechs Millionen Menschen. Bis zur Schlacht um die kurdische Kleinstadt Kobanê in Nordsyrien am Jahresende 2014 breitete sich der IS aus. 50.000 Kämpfer aus dem Ausland sollen nach Schätzungen der Geheimdienste in den fünf Jahren in den IS-Krieg gezogen sein. Doch mit dem Widerstand in Kobanê begann eine globale Solidaritätsbewegung, die in Luftangriffen des US-Militärs mündeten, die wiederum von syrisch-kurdischen Bodenverbänden flankiert wurden. Damit begann der Rückzug einer Organisation, deren Ursprung viele Jahre zurückreicht.

Osama bin Laden
Osama bin Laden © AP

Die Gründung wurzelt im Afghanistan-Krieg gegen die Sowjetunion in den 80er-Jahren. Osama bin Laden und Abu Musab al-Zarqawi gründen zwei Gruppen, die beide das Kalifat anstreben. Ihre Wege kreuzen sich in den 90er-Jahren erstmals. Doch für den vermögenden Saudi bin Laden ist Zarqawi ein ungebildeter Rüpel und für die jihadistische Bewegung ungeeignet – er unterstützt ihn aber finanziell. Während bin Ladens Al Kaida sich mit Anschlägen einen weltweiten Namen macht und den Kampf gegen den Westen zum Ziel erklärt, strebt Zarqawis Gruppe „Jama’at at-Tawhid wal-Jihad“ lediglich den Umsturz in Jordanien an. Die US-Invasion im Irak 2003 bringt beide zusammen und im Oktober 2004 schwört Zarqawi öffentlich den Treueeid auf bin Laden. Sie nennen ihre Gruppe Al Kaida im Zweistromland. Doch dann wird Zarqawi von US-Truppen 2006 getötet. Die Führung geht auf Abu Omar al-Baghdadi über, der den „Islamischen Staat im Irak“ (ISI) ausruft und bin Laden den Treueeid verweigert.

Befreite Zivilisten in Baghus
Befreite Zivilisten in Baghus © APA/AFP/BULENT KILIC



Sein Nachfolger Abu Bakr al-Baghdadi übernimmt 2010, bricht drei Jahre später mit Al Kaida und entdeckt für sich das entstehende Vakuum im Bürgerkriegsland Syrien. Er nennt seine Organisation „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS) und tritt damit in offene Konkurrenz zum syrischen Al-Kaida-Ableger „Dschabhat al-Nusra“. Nach dem offiziellen Ende jeder Zusammenarbeit im Frühjahr 2014 bekämpfen sich Anhänger von Al Kaida und IS sogar auf den Schlachtfeldern.

Die härtesten Gegner lauern für den IS jedoch jenseits von Syrien und Irak. 2016 schließt die Türkei die Grenzen für ausländische Kämpfer – mit Folgen für die Kampfkraft. Schon am Ende des Jahres muss die Terrormiliz Mossul aufgeben, die sie als Hauptstadt ihres Kalifats ansieht und verwaltungstechnisch entsprechend ausgebaut hat.
Im Sommer 2017 ist der IS weitgehend aus dem Irak vertrieben und muss sich in Rakka der Angriffe der Allianz erwehren. Die Stadt haben die Islamisten zur zweiten Machtbasis in Syrien erklärt. Nur ein halbes Jahr hielt der IS der Belagerung stand, dann wurde den Kämpfern ein schmachvoller Abzug gewährt. Der „Islamische Staat“ ist auf einzelne Restgebiete zusammengeschrumpft. Die Ideologie allerdings, die ist inzwischen weltweit verbreitet.