Herr Messner, wir treffen uns vor der herrlichen Kulisse der Sextener Dolomiten. Kann so viel Schönheit manchmal nicht einfach zu viel sein?
REINHOLD MESSNER: Für mich nicht. Für mich sind die Dolomiten nie erdrückend. Sie leben von dieser einzigartigen Spannung: unten, horizontal hingestreut, das liebliche Grün der Almwiesen und darüber, vertikal gestellt, die menschenabweisenden, schroffen Berge. Das ist ein Landschaftsbild, das es nur bei uns in Südtirol gibt.

Die Schönheit ergibt sich aus dem Kontrast der Gegensätze.
Aus ihrer Summe. Wir haben in Südtirol zum Glück noch eine intakte, kleinräumige alpine Kulturlandschaft. Einst war hier alles bewaldet. Vor 8000 Jahren hat der Mensch dann begonnen, das Land in Besitz
zu nehmen. Er hat die Wälder gerodet und ist langsam in die Höhe gestiegen, um die Almen zu beweiden. Heute ist das ein großer Schatz.

Aber die Intaktheit ist bedroht.
Wir haben auch in Südtirol Plätze, wo der Massentourismus überhand nimmt. Wenn Sie an einem schönen Augusttag um die Drei Zinnen wandern, geht es schlimmer zu als in der Kaufingerstraße in München:
Hektik, Chaos, Lärm, Aggression. Dazu kommt die Bautätigkeit. In Südtirol versucht man, den Wildwuchs einzudämmen. Schon früh in den Sechziger- und Siebzigerjahren hat die Landesregierung von Silvius Magnago Wert darauf gelegt, dass nicht die ganze Land schaft verstellt wird. Man hat die brutale Holz-vor-der-Hütte-Architektur nicht zugelassen. In Österreich ist das viel schlimmer.

Woher dieses frühe Sensorium?
Die Autonomie gibt uns viele Möglichkeiten. Aber sie ist nichts Statisches, sondern ein Prozess. Durch unsere Geschichte waren wir gezwungen, ganz langsam zu unseren Errungenschaften zu gelangen. 1918 wurde Südtirol als Kriegsbeute Italien zugeschlagen, es folgten Faschismus, Zwangsitalianisierung und unsere Erbsünde, die Option. Auch meine Eltern wollten ins Deutsche Reich auswandern. Wir waren staatenlos nach dem Krieg. Selbst der wirtschaftliche Erfolg stellte sich viel später ein als anderswo. In den Fünfzigern waren wir die ärmste Provinz von Italien. Heute sind wir die reichste. Vor allem Landeshauptmann Luis Durnwalder hat das Land wohlhabend gemacht, weil er die Autonomie mit wirtschaftlichen Inhalten gefüllt hat.

Was war Ihr erster Berg?
Der Sass Rigais. 1949. Ich war fünf Jahre alt. Das ist lange her.

Woran erinnern Sie sich?
Dass mein Vater beim Raufgehen die Zigaretten in einem Baumstrunk versteckt hat. Er hat sie oben am Berg nicht gebraucht. Der größte Eindruck aber war, als ich auf die Alm zurückgekommen bin, von wo
wir los sind. Zum Berg aufzublicken und zu sagen, da war ich oben, diesen Moment werde ich nie vergessen. Der Berg war riesengroß für mich kleines Kind. Ich konnte es selber nicht glauben.

Was macht der Berg mit einem?
Man kann Maß nehmen. Gemessen wird aber nicht in Höhenmetern oder Gehstunden, die Maßeinheit sind die Müdigkeit, die Hoffnungen und Ängste, also alles, was man durchmacht, wenn man einen Berg
besteigt. Und wenn man oben steht, erkennt man, dass die Welt viel größer ist als im engen Tal, aus dem man kommt, und der Horizont viel weiter. Bei mir zu Hause in Villnöß brauchte ein Flugzeug eine Minute, um das Tal zu überfliegen und zu verschwinden. Als Kind habe ich mich immer gefragt, was wohl dahinter ist.

Die Spannung zwischen Enge und Weite hat Sie Ihr Leben lang begleitet. Sie könnten leben, wo Sie wollen. Warum sind Sie immer wieder hierher zurückgekehrt?
Ich bin Südtiroler, bin hier aufgewachsen. Später dann bin ich auf die Oberschule und die Universität. Aber das meiste, was ich kann, habe ich in diesen Tälern gelernt. Meine Eltern und Großeltern liegen hier begraben. Ich weiß viel von ihrem Leben und von dem meiner Vorfahren. Es ist das Land, für das ich Verantwortung mittrage.

Warum so verhalten? Warum sagen Sie nicht einfach, ich lebe in Südtirol, weil es meine Heimat ist?
Weil der Begriff Heimat gerade bei uns so missbraucht worden ist. Kein Südtiroler kann nach der Option locker von Heimatliebe sprechen. Als wir nämlich die Gelegenheit hatten, diese Liebe zu beweisen, haben wir unsere Heimat billig hergeschenkt. 86 Prozent waren 1939 bereit, nach Hitlerdeutschland auszuwandern. Wäre nicht der Krieg gekommen, gäbe es Südtirol gar nicht mehr. Meine Mutter hat später eingesehen, dass das ein Fehler war. Sie wollte das korrigieren. Mein Vater nicht.

Wie wollte Ihre Mutter ihren Irrtum berichtigen?
Sie hat uns als Kinder viel auf Wanderungen mitgenommen. Eines Tages sind wir zum steilsten Bauernhof von Villnöß gekommen. Da hat sie zu uns gesagt: Dieser Bauer ist nicht weggegangen. Immer wieder
kamen Propagandisten auf den Hof und lockten ihn: Du kriegst im Reich einen Hof im Flachland. Der ist viel mehr wert und die Arbeit ist viel leichter. Aber der Bauer blieb standhaft: Ich gehe nur weg, wenn ich den gleich steilen Hof bekomme mit den gleichen Bergen als Kulisse, hat er gesagt. Mit seiner Geschichte wollte meine Mutter uns Kindern sagen: Heimat ist nicht der bessere Boden. Sie ist das Dasein, Immerdagewesensein und die Verantwortung für das Land, das einem gehört, und die einmalige Landschaft. Beides darf man nicht einfach so herschenken.

Wie präsent sind diese Dinge heute eigentlich noch in Südtirol?
Ich glaube, dass die Südtiroler immer noch gern hereinfallen auf völkisches Gedankengut. Es gibt da zum Teil noch ein falsches Geschichtsbewusstsein, das aus mangelhafter historischer Kenntnis herrührt. Die Leute machen sich etwas vor. Natürlich haben die Südtiroler viel gelitten, meine Großeltern und Eltern haben noch die Katakombenschulen miterlebt. Aber die Italiener, die heute in Südtirol
leben, sind genauso Südtiroler. Dieses Recht dürfen wir ihnen nicht absprechen. Sonst sind wir gleich wie Mussolinis Faschisten, die uns das Deutschtum rauben wollten. Das ist ja auch das Problem, das ich mit dem Doppelpass habe.

Was ist Ihr Problem damit?
Der Doppelpass wäre kein Problem, wenn er allen Südtirolern angeboten würde und sogar den Trentinern, die im Ersten Weltkrieg für Österreich-Ungarn gekämpft haben und zu ich weiß nicht wie vielen Tausenden für den Kaiser gefallen sind. Man kann nicht hergehen und sagen, nur Deutschsprachige und Ladiner bekommen die Staatsbürgerschaft, die in Südtirol lebenden Italiener dagegen nicht.

Werden Sie einen beantragen?
Nein, ich glaube auch nicht, dass der Doppelpass kommt. Die Römer werden auf die Barrikaden steigen. Salvini wird alles tun, um ihn zu verhindern. Er ist kein Faschist. Das ist übertrieben. Aber Zentralist, was bizarr ist, da die Lega als Fliehkraftpartei entstanden ist, die für die Lombardei und Veneto nahezu Eigenständigkeit wollte. Aber jetzt, da die Lega regiert, heißt es: Prima gli italiani! Zuerst die Italiener! Alle Ausländer raus! Die sollen im Meer ersaufen.

Ist der Doppelpass das Relikt einer Welt von gestern?
Wir in Südtirol sind weiter. Wir haben mehrere Kulturen verinnerlicht. In meiner Kindheit war das noch ganz anders. Da gab es richtige Bandenkriege. Wir waren für die Italiener die Crucchi, sie für uns
die Walschen. Und Walsch, Italienisch, hat man nicht gelernt. Heute bin  ich stolz darauf, dass ich es kann. Es ist Teil meines Erfolgs. Ja, ganz Südtirol steht deshalb so hervorragend da, weil es das Kettenglied ist zwischen deutschem Norden und romanischem Süden. Das Leid der Vergangenheit hat sich zum Vorteil verkehrt. Wir Südtiroler sind heute bestens vorbereitet auf ein gemeinsames Europa, weil wir längst Europäer sind.