Im ZiB2-Interview mit Armin Wolf sprach der renommierte israelische Historiker Tom Segev am Dienstagabend über die dramatische Lage in Israel und Gaza – und fand dabei ungewöhnlich deutliche Worte.

Israels Premier Benjamin Netanjahu fordert, den Gaza-Streifen vollständig zu besetzen, angeblich um die verbliebenen Geiseln zu befreien. Doch das israelische Militär lehnt diese Strategie ab. „Vom Gaza-Streifen geht keine Gefahr mehr aus“, hieße es aus Armeekreisen – und man solle vielmehr auf Diplomatie setzen. In einem offenen Brief habe die Militärführung sogar US-Präsident Donald Trump kontaktiert, in der Hoffnung, dass er auf Netanjahu einwirke.

Neu in Israel: Kluft zwischen Regierung und Armee

Segev beschreibt eine zunehmende Kluft zwischen Regierung und Armee – eine Entwicklung, die in Israels Geschichte einzigartig sei: „Mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Israelis heute nicht zu Netanjahu steht, sondern zum Generalstabschef.“ Eine Ausweitung des Kriegs könne das Leben der Geiseln gefährden, warnt das Militär.

Moralischer Wendepunkt in Israel

Für Segev ist der Krieg moralisch und politisch am Wendepunkt. Er spricht offen über Schuldgefühle: „Ich schäme mich, was wir in Gaza getan haben. Ich fühle mich mit schuldig und kann es nicht ändern.“ Die Katastrophe in Gaza habe in der israelischen Gesellschaft moralische Diskussionen ausgelöst – viele Menschen würden sich erstmals fragen, was man den Palästinensern antue. Die israelischen Medien, so Segev, hätten während des Krieges nur wenig aus Gaza berichtet. „Die sind so patriotisch“. Erst in letzter Zeit habe sich das geändert.

Segev fordert: „Alles was den Krieg beendet, heute Abend noch, morgen früh, sollte die israelische Regierung tun. Der Krieg muss beendet werden, die Geiseln müssen befreit werden. Und zwar sofort. Die Hamas als Armee gibt es gar nicht mehr. Das ist jetzt eine Guerilla-Organisation. Eine solche hat eine Staatsarmee noch selten besiegen können.“

Verlängert Netanjahu bewusst den Krieg?

Auf die Frage, ob die Geiseln militärisch befreit werden könnten, antwortet Segev vorsichtig: „Ich weiß es nicht.“ Er vermutet jedoch, dass Netanjahu den Krieg aus innenpolitischen Gründen verlängert, um Neuwahlen und ein drohendes Korruptionsverfahren zu vermeiden.

Zu wenig Druck aus Deutschland

Deutliche Kritik äußert Segev auch an Deutschland: „Die Kritik aus Deutschland ist viel zu leise. Israel braucht einen viel stärkeren Druck.“ Die Anerkennung eines palästinensischen Staates sei symbolisch, der Staat eine reine Fiktion. Das habe noch kein Kind gerettet.

Eine Zweistaatenlösung hält Segev derzeit für unrealistisch. Es gebe weder auf israelischer noch auf palästinensischer Seite genug Unterstützung. „Schlimmer als jetzt kann es aber kaum werden – besonders für die Geiseln und die Palästinenser.“