Ramadan und Corona prägen derzeit den Alltag im Nahen Osten. Und so kamen die Volksvertreter in Bagdad erst zwei Stunden nach Sonnenuntergang und Fastenbrechen mit Mundschutz und Plastikhandschuhen im Plenum zusammen, um mit Mustafa al-Kadhemi endlich einen neuen Regierungschef zu wählen. In der Nacht zu Donnerstag gab eine Mehrheit der 329 Volksvertreter dem 53-jährigen schiitischen Politiker und seinem Kabinett ihre Stimme. Zentrale Posten jedoch, wie der des Ölministers und des Außenministers blieben vakant, weil sich die politischen Blöcke bisher nicht einigen konnten. Sechs Monate hatte das Tauziehen hinter den Kulissen gedauert, nachdem Vorgänger Adel Abdel Mahdi im November 2019 durch Massenproteste zum Rücktritt gezwungen worden war.

Der neue Premierminister gilt als politisch unabhängig und persönlich integer.1967 in Bagdad geboren, floh Mustafa al-Kadhemi als 18-Jähriger vor Saddam Hussein ins Exil, zunächst nach Deutschland, später nach Großbritannien, wo er als Journalist unter anderem für die BBC und die Irak-Abteilung von „Radio Free Europe“ arbeitete. 2003 kehrte der studierte Jurist nach Bagdad zurück und gehörte zu den Mitbegründern des „Iraqi Media Network“, dem Nachfolger des Regime-Fernsehens. In seinen Zeitungsartikeln beschäftigte sich der Vater zweier Kinder vor allem mit den Missständen und notwendigen Reformen im Land. Parallel dazu engagierte er sich als Bürgerrechtler in der „Iraq Memory Foundation“, die die Verbrechen des Saddam-Regimes dokumentierte. 2016 auf dem Höhepunkt des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“ wurde er dann überraschend zum Chef des irakischen Inlandgeheimdienstes (INIS) ernannt, wo er mutig Front machte gegen amtsinterne Korruption. Zu Washington, aber auch zu Teheran baute er gute Verbindungen auf, genauso wie zu dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman.

Auf den Neuen warten Herkulesaufgaben

Auf seine neue Regierung warten Herkules-Aufgaben – der Wirtschaft droht wegen Corona das schlechteste Jahr seit dem Sturz von Saddam Hussein 2003. Die Frustration im Volk über das chronische Staatsversagen, die sich in wochenlangen Protesten entlud, wird derzeit nur durch die Covid-19-Ausgangssperre in Schach gehalten. Nach der US-Drohnenexekution des iranischen Generals Qassem Soleimani in Bagdad entwickelt sich der Irak immer mehr zum Schauplatz der Konfrontation zwischen Iran und den USA. Zudem nutzt der „Islamische Staat“ das wachsende Chaos zu neuen Terroranschlägen gegen Sicherheitskräfte und Stammesführer.

In seiner Antrittsrede versprach Al-Kadhemi, vorgezogene Neuwahlen auszuschreiben. Gleichzeitig kündigte er einen Nothaushalt an, um vor allem die Kosten für den extrem aufgeblähten öffentlichen Dienst in den Griff zu bekommen. Denn durch den Kollaps des Ölpreises könnte der Staatsetat 2020 um bis zu 80 Prozent einbrechen. „Diese Regierung“, rechtfertigte der neue Regierungschef seine einzigartige Rosskur, „ist eine Antwort auf die soziale, ökonomische und politische Krise unseres Landes.“