Barcelona, Innenstadt. Vor dem Hotel ein Panorama aus Jugendstil und politischer Agitation. Von den Balkonen hängen „Los von Spanien“-Fahnen. Christoph Leitl sitzt beim Frühstück. Vor ihm ein Ei im Glas und eine Schale Cortado-Kaffee, spanische Edelmischung. „Pension?“, feixt der scheidende Präsident der Wirtschaftskammer furchterregend munter in die Runde der Unausgeschlafenen. ,,Das wird es bei mir nicht spielen.“

Das Wort komme ihm nicht über die Lippen. Die Selbstzensur hat zu tun mit dem energetischen Grundwasserspiegel des 69-Jährigen. Plant er eine Wirtschaftsreise, setzt er die Termine so dicht hintereinander wie die Setzkartoffeln in seinem Mühlviertler Garten. Er will sehen, wie die Jüngeren um ihn herum der Reihe nach einknicken und mit ansehen, wie der Scheidende noch spät am Tag die Wendeltreppen zum x-ten Kooperationsabkommen empor eilt und drei Stufen mit einem Schritt nimmt.

Rückzug, sagt er, sei gleichzusetzen mit Rückzug aus dem Leben. Der Waidmann vergleicht es mit dem „Zurücksetzen“ des Geweihs beim Wild. Ab einem gewissen Alter hat es, abgeworfen und nachwachsend, weniger Enden als zuvor, „liebe Leut’, nicht mit mir“. Absterbende Neugier nennt er es bei Menschen, „freiwilliges Ableben im Kopf“. Es gibt für einen wie ihn nichts Sündhafteres.

Nah an die Sünde kommt er an diesen drei Tagen nie. Zitternd und mit unbändigem Wahrnehmungshunger fotografiert Leitl zwischen seinen Auftritten alles nieder, was ihm vor das wackelnde Handy kommt. Erst Mailand, dann Barcelona, seine letzte Route, Schlagobers auf dem Kaffee nennt er die Kapitalen der Kreativwirtschaft mit ihren Designstudios und Architektur-Ateliers, Finale Grande. Die jungen Österreicher sollen hier andocken. Im Mailänder Designmuseum Triennale macht er vor einer Isetta aus den 50ern halt, strahlend wie ein staunendes Kind. Mit diesem Gefährt, bei dem sich die Tür auf der Frontseite samt Lenkrad öffnen lässt, sei er als Bub mit der Mutter in Linz zum Einkaufen gefahren. Deine geliebte Isetta, tippt er ins Handy und schickt das Foto der 91-jährigen, digitalaffinen Mutter.

Mit dem national gesinnten Vater, dem Gründer und Chef eines Ziegelwerks, war das Verhältnis komplizierter, vor allem in frühen Jahren. Mit 19 türmte der junge Leitl. Der Unternehmersohn trug langes Haar und einen knallroten Pullover mit Jeans. So durchquerte er im Greyhound Amerika und landete im 68er-Jahr als Strandgut bei den Hippies in San Francisco.

Leitl traf auf das Idol seiner Jugend


Als er Jahrzehnte später, nach langem Marsch durch die eine Institution, mit einer Wirtschaftsdelegation wieder dort ist, um nachzuholen, was das Land im Silicon Valley durch Absenz versäumt hat, packt ihn jäh die Erinnerung und lässt ihn nicht mehr los. Unvergesslich bleibt, wie Leitl in einem Forschungslabor von AVL auf Neil Young, das Idol seiner Jugend, trifft. Die Ikone fummelt gerade an der neuen Hybrid-Batterie seines weißen Chevrolets herum. Leitl umkreist den Schlitten ungläubig, ehe er auf den Barden zugeht und sich ihm offenbart. Dann lädt Leitl im Bus den Song „Teach your children well“ am Handy herunter, stellt das Lied laut und beginnt versonnen in seinem grauen Kammeranzug am schmalen Gang zu tanzen. Drei Minuten ist er wieder der Ausreißer mit dem roten Pulli.

Noch heute vibriere es in ihm, wenn er die Lieder höre, erzählt Leitl auf seiner Abschiedstour. Er glaubt an die Kraft des Integrativen. Es sei eine Inspiration jener Jahre, sagen die, die ihn kennen. Das Umarmende seines Wesens, versinnbildlicht in der wehrlos machenden Breite seines Lachens, habe sich damals herausgebildet. Sozialpartner mit pazifistischer Grundmelodie. Österreich sei zu klein für ein Land im Dissens: einer seiner Glaubenssätze. Er fällt mehrfach am Tag.

Blickt er auf die Finanzkrise zurück, ist er heute noch stolz darauf, dass fast alle ihre Jobs behielten, weil man mit Kurzarbeit-Kompromissen über Wasser blieb. Die Weggefährten von AK und Gewerkschaft will er zum Abschied noch dekorieren, es ist ihm ein Anliegen. Einen der beiden Täter, die ihn in den Siebzigern entführten, besuchte er später im Gefängnis und stellte ihn sogar im eigenen Betrieb an, weil der sich geweigert hatte, die Kinder der Familie in das Verbrechen einzubeziehen.
Fremde Gastgeber und potenzielle Partner begrüßt er in Mailand mit den Worten „Buon giorno, liebe Freunde“.

Ohne Beziehungsebene kein Geschäft: Mühlviertler Einmaleins. Alles, was Gräben öffnet, findet er übel. Sanktionen gegen Putin etwa. Er sagt: Europa schließe seine Türe zu Russland und Russland öffne seine zu Asien. So blöd sei Europa. Stolz reckt er in einer Hafenkneipe in Barcelona ein Handy-Foto über den Stockfisch, sodass die Kollegen der katalanischen Handelskammer an der Trophäe nicht mehr vorbeikönnen. Zu sehen sind ranghohe Wirtschaftsvertreter der Ukraine und Russlands. Beide auf einem Bild, seinem Bild! Der Friedensstifter bei der Arbeit, give peace a chance. Leitl baut die Lennon-Zeile gerne in seine Reden ein, auch dann, wenn er, wie vor Jahren in Mexiko, vor der Niederlassung eines Wasserflaschen-Herstellers spricht.

"Noch ist Europa stärkste Wirtschaftsmacht


Alles, was trennend wirkt, erfüllt Leitl mit Argwohn. Trennung der Schüler mit zehn. Oder: Hemmnisse beim Handel. Wer miteinander Handel treibe, „schlägt sich nicht die Schädel ein“. Der Mahner, eine Mischung aus Herzmanovsky-Orlando und Abraham a Santa Clara. In furchtlosem oberösterreichischen Englisch warnt Leitl vor Uneinigkeit in Europa. Dass Macron und Merkel nicht gemeinsam zu Trump reisten, sondern hintereinander: „ein furchtbares Signal“. Noch sei Europa stärkste Wirtschaftsmacht, korrigiert er einen katalanischen Journalisten, der gemeint hat, Amerika oder China sei es. Mit Abspaltung und Nationalismus werde man die Führungsrolle nicht halten, mahnt der Kammerchef beim Empfang unter den Arkaden im Innenhof der Uni Barcelona, und schlägt mit seinem Lachen eine Schneise durch die Menge der anwesenden Katalanen. Nur die Vögel im Feigenbaum wagen es, dagegen anzuzwitschern. Da hat Christoph Leitl schon als Präsident der europäischen Kammer gesprochen, der er seit Anfang Jänner ist.

Als Naivität sollte man Leitls Versöhnungskampagnen besser nicht deuten. Es hieße, sein Potenzial an bäuerlicher Schläue zu unterschlagen. Bei der Wahl zum europäischen Kammerboss war der irische Mitstreiter Favorit, auch, weil er die Stimme Englands sicher im Sack wähnte. Leitl: „Die haben nur nicht gewusst, dass ich mit dem Engländer in der Nacht davor an der Bar war.“ Man vereinbarte einen Late-Night-Deal. Wer immer in die Stichwahl komme, würde mit der Stimme des jeweils anderen rechnen können. Damit war der irische Rivale anderntags aus dem Rennen. Der Rebensaft und seine Wirkmacht: alte Figl-Schule.

Mailand und Barcelona, die ökonomisch stärksten Regionen der beiden Länder, waren der klug gewählte Schlusspunkt eines einjährigen Kooperationsreigens der Kammer. Der Zyklus umfasste Dorados der Spitzenforschung wie die ETH Zürich, das MIT oder Harvard, und führte in Länder wie Südkorea oder Singapur, Metropolen revolutionären Wandels. Die Netzwerke, die man flocht, sollen den Blick nach außen lenken, hin zu den Besten. „Average is over“, Durchschnitt war einmal, auch so ein Satz von unterwegs, den Leitl aufsog wie ein Schwamm. Aufgeigen statt absandeln, übersetzt er ihn in milder Abwandlung eines schroffen Urteils früherer Tage. Was gültig bleibe: mehr Schweiz, weniger Sissi! Am Ende des Reigens sollte die Welt der Jungen, Kreativen stehen. Mailand, Barcelona: Im Kern der DNA Europas sollte die Smile-Tournee enden. Mit den Design-Zentren der Städte schloss Leitl Partnerschaftsverträge. Jetzt müssen Österreichs Start-ups sie nur noch nutzen.

Leitl übergibt Zepter an den "richtigen Kopf für die neuen Zeiten"


Am 18. Mai wird Christoph Leitl das Zepter an Harald Mahrer übergeben. Er sei der „richtige Kopf für die neuen, digitalen Zeiten“. Die Spitzen der Republik sollen Spalier stehen, auch der Bundespräsident wird reden. Das alte Österreich soll noch einmal aufblitzen, das hinübergerettete Gute von ihm, das Leitl als synthetischer Typus unverwechselbar verkörpert. Er will die Feier nicht im Vorfeld trüben und hält sich auf seiner letzten Reise mit Kritik an der Regierung atypisch zurück. Und was, wenn die Regierung der Kammer auf den Leib rücke und die Reformen als ungenügend werte? Leitl zögert einen Augenblick, nimmt einen letzten Schluck vom Cortado-Kaffee und sagt: „Dann würde ich der Regierung eine Gewissenserforschung nahelegen. Ich würde ihr klarmachen, dass ich erst gesprächsbereit bin, wenn die Regierung ihrerseits zehn Prozent bei der Verwaltung nachhaltig spart und die Rückständigkeit in der digitalen Infrastruktur behebt, und zwar nicht mit nebulosen Ankündigungen bis 2025.“ Leitl-Sound, wenn auch nur für Augenblicke.

Sie reichen, um zu erahnen, wie schwer ihm das fällt, was er „Österreich abgeben“ nennt. Nach 18 Jahren Kammerchef sei es halt tief drinnen nicht so einfach, „wie eine Dirn vom Tanzboden zu laufen“. Nur eines verschafft dem Scheidenden Trost: „Keine Parteisitzungen mehr! Keine Falschheiten! Was für ein Zugewinn an Leben!“