Den sechsten Tag unserer Reise beginnen wir in Yad Vashem in Jerusalem. In dieser Gedenkstätte für die im Holocaust ermordeten sechs Millionen Juden existiert auch ein Denkmal für die eineinhalb Millionen ermordeten Kinder und Jugendlichen. Der Hauptraum ist komplett verspiegelt und reflektiert das Licht von fünf Kerzen. Die tausendfache Spiegelung dieser fünf Lichter bewirkt enorme Betroffenheit. Die Besucher hören über ein Endlostonband Alter und Ort der bis heute bekannten Namen der Ermordeten. Um alle Namen wiederzugeben, benötigt dieses Tonband ungefähr drei Monate. Dem dort ganz aufs Hören konzentrierten Besucher wird so ein Bibelwort des Propheten Jesaia (Jes 56,5) in Erinnerung gerufen: „Ihnen allen errichte ich in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal, ich gebe ihnen einen Namen, der mehr wert ist als Söhne und Töchter: Einen ewigen Namen gebe ich ihnen, der niemals getilgt wird.“

Nichts und niemand hätte uns an diesem Vormittag besser auf den Besuch einstimmen können als Edgar Unterkirchner mit seiner behutsam leisen Saxophonmelodie. 2015 hat er die vielfach preisgekrönte Musik für Manfred Bockelmanns Film „Zeichnen gegen das Vergessen“ komponiert und eingespielt. Der Film dokumentiert, wie Bockelmann den Ermordeten, die als statistische Nummer in den Archiven verschwanden, wieder ein Gesicht zu geben vermochte. Mit Kohlestift auf grober Juteleinwand zeichnet er in horizontalen Linien ein Porträt nach dem anderen. Diese Kinder schauen uns von Angst erfüllt, fragend an: „Warum ich?“

Beim Betrachten muss ich unweigerlich an Psalm 22 denken, den der sterbende Jesus in die Welt schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dieses Gebet wird oft als Verzweiflungsschrei ausgelegt und mit der Frage verbunden, ob nicht einer, der sich als „Sohn Gottes“ begreift, etwas daran hätte ändern können.

Gewiss: Dieses Gebet ist ein Verzweiflungsschrei, aber nicht nur das. Jesus ist dieses Gebet von Kindesbeinen an vertraut. Er weiß nicht nur, wie es beginnt, sondern vor allem, wie es endet – nicht in völliger Verzweiflung, sondern voller Hoffnung: „Ich will von deinem Namen meinen Brüdern erzählen, inmitten der Versammlung will ich dich preisen.“

Als mein Bruder mit 42 Jahren am Sterbebett lag, hat er unsere Mutter am Telefon gebeten, ihm das „Martergebet“ vorzubeten, ein dem Psalm 22 ähnliches Gebet im Oberkärntner Dialekt, das in unserer Familie zur Karwochentradition gehört. Der Wunsch meines Bruders damals hatte nicht so sehr der Hoffnung gegolten, mit diesem Gebet sein Sterben zu verhindern, sondern dem Trost, in der Stunde des Todes nicht alleingelassen zu werden.

An vielen Stellen der Bibel prägt eine solche Hoffnung die Gottesvorstellung. Das Buch Ijob berichtet von einem frommen und gerechten Mann, der verdächtigt wird, nur zu Gott zu halten, solange es ihm gut geht, aber den Glauben zu verlieren, sobald er ihm nichts mehr einbringt. In der Folge verliert Ijob alles. Seine Herden werden gestohlen, Hab und Gut ein Raub der Flammen, die Kinder kommen ums Leben und zuletzt wird er selbst mit Krankheit geschlagen.

Da kommen drei Freunde, um ihn zu trösten, bedienen sich dabei aber lediglich billiger Bibelsprüche. Sie sagen ihm, er müsse nur seine Schuld bekennen, um vor Gott wieder als Gerechter dazustehen. In solchen „Tröstungen“ praktizieren sie ein moralisierendes Gottesbild, welches das Leid aus der Schuldverstrickung des Menschen erklärt, ihm ständig ein schlechtes Gewissen mit auf den Weg gibt, im Grunde den Menschen klein macht, damit Gott groß sein kann.

Die Rahmenbedingungen dieses Gottesbildes lauten: „Wen Gott liebt, den züchtigt er.“ Die Haupttugend eines solchen Gottesglaubens ist der Gehorsam nach der Devise „blind gehorchen und aufs Wort parieren“. Schon Martin Luther weist darauf hin, wer an einem solchen Gottesbild aus verständlichen Gründen ein besonderes Interesse haben wird: Feldwebel, Schulmeister, Pfarrherren und Landesherren; ihr gemeinsames Interesse bestünde darin, das Selbstbewusstsein des Menschen „im Namen Gottes“ zu brechen, das Selbst des Rekruten, des Kindes, des Gläubigen, des Bürgers. Dabei handelt es sich aber um das Kostbarste, das wir haben, unser aus unserem Innersten kommendes Wollen. Ein gebrochener oder verbogener Wille kann niemals ins Leben führen, er muss in der Depression landen.

Dagegen wehrt sich Ijob. Er ist sich keiner Schuld bewusst und lässt sich auch keine einreden. Dieses Selbstbewusstsein eines Menschen vor seinem Gott ist in der Religionsgeschichte erstmalig in diesem Buch belegbar. Das Geschöpf tritt in Augenhöhe seinem Schöpfer gegenüber. Für Ijob bringt der Glaube nichts ein, er bekommt keine Antwort auf seine Fragen, schließt aber zum Ende doch mit einer neuen Erfahrung: „Aufs Hörensagen des Ohrs habe ich dich gehört, jetzt aber hat dich mein Auge gesehen“ (Ijob 42,5).

Ijob und Freud sind sich in ihrer Kritik darin einig, dass ein naiv-archaisch-moralisierender Gott ein Götze ist und den Menschen nicht erlösen und befreien kann. Im Unterschied zu Freud setzt Ijob dagegen aber einen Gott, der Beziehung ist. Das Buch Ijob zeigt, dass der Glaube kein billiges Geschäft ist, sich nicht lohnt und in seiner Begründung nur einen einzigen Grund hat, und der ist Gott. Wie es auch nur einen einzigen Grund für die Liebe gibt, und das ist die Liebe. Liebe genügt der Liebe so, wie der Glaube dem Glauben genügt.

Dieser Glaube muss nutzlos und zwecklos sein, nur dann ist er sinnvoll und Ausdruck von Freiheit. Alles andere führt unweigerlich dazu, dass Gott groß- und der Menschen kleingeredet wird. Dann werden Bescheidenheit, Demut und Gehorsam überbetont, Zivilcourage, Ermutigung und, wenn nötig, das Auftreten als brüllender Löwe entwertet.

Zugegeben: Wer in dieser Welt bei der Zusammenschau von Leiden, Unrecht und Naturkatastrophen von Gott zu reden beginnt, hat es schwer. Atheisten haben es da leichter. Aber die Kritik der Atheisten ist nichts im Vergleich zur Kritik Ijobs an Gott. Der Atheist hält ja bei dem, was er gegen Gott vorzubringen hat, an Gott nicht fest, sondern sieht darin einen Beweis, dass es ihn nicht geben kann. Ijob hingegen hält durch alle Erfahrung hindurch an Gott fest, spielt das Leiden nicht herunter, erklärt und verklärt es nicht. Ijob will nicht von Gott los, er will nur wissen, was mit Gott los ist. Das ist die entscheidende Karfreitagsfrage, die keine vorschnelle, billige Antwort verträgt.