Megatrend und Volkskrankheit: So wird Einsamkeit in den Medien aktuell beschrieben. Sehen Sie als Wissenschaftler diesen Trend auch?

Janosch Schobin: Das ist leider extrem schwer zu sagen, da uns die Daten fehlen. In deutschen Untersuchungen sieht man über die Jahre keine große Veränderung: Seit den 1990er-Jahren liegt die Zahl der Menschen, die in Befragungen sagen, dass sie sich einsam fühlen, bei etwa fünf Prozent. Eine Studie des Roten Kreuzes in England hat sehr große Wellen geschlagen, 18 Prozent der Briten gaben an, einsam zu sein. Nun gab es aber eine andere Studie, vier Jahre davor, mit einer ganz ähnlichen Fragestellung, und dabei waren nur fünf Prozent der Befragten einsam. Der Unterschied: Das Rote Kreuz befragte Menschen online, die andere Befragung wurde von Angesicht zu Angesicht durchgeführt. Nun ist es etwas ganz anderes, Einsamkeit einer Person gegenüber zuzugeben als gegenüber einem Computer. Da fangen die Schwierigkeiten an.

Janosch Schobin
Janosch Schobin © KK

Auch kulturell scheint es große Unterschiede zu geben: Was konnten Ihre Untersuchungen zeigen?

Ich habe Befragungen zu Einsamkeit in Deutschland und in Lateinamerika gemacht und es gab extreme Unterschiede. In Lateinamerika sind Klagen über Einsamkeit völlig üblich, auch Fremden gegenüber. Dort folgt auf die Klage über Einsamkeit auch soziale Unterstützung: Man wird zum Essen eingeladen, um eben nicht allein zu Hause sitzen zu müssen. In unseren nordeuropäischen Wohlstandsgesellschaften ist Einsamkeit hochgradig stigmatisiert und wird an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Menschen schämen sich für ihre Einsamkeit. Einsam zu sein, wird als Fehler angesehen, den man selbst gemacht hat.

Wie definieren Sie eigentlich Einsamkeit?

Wir unterscheiden einerseits das subjektive Gefühl, einsam zu sein, und andererseits die objektive Seite der sozialen Isolation - das bedeutet, dass man den Kontakt zu Menschen verliert, zu denen man eine positive Bindung hat. Dazwischen gibt es einen großen Unterschied: Es gibt Menschen, die sozial isoliert sind, sich aber nicht einsam fühlen. Und es gibt Menschen, die sich einsam fühlen, obwohl sie nicht isoliert sind. Es geht also um die persönliche Bewertung.

Trotz der kulturellen und subjektiven Unterschiede: Gibt es Rahmenbedingungen, die in die Einsamkeit führen?

Typischerweise geben Frauen in Umfragen eher an, einsam zu sein, als Männer - aber das kann allein daran liegen, dass es für Frauen einfach akzeptabler ist, Gefühle und auch Einsamkeitsgefühle zuzugeben. Ich habe einmal eine Untersuchung zu Bestattungen von Amts wegen gemacht - das sind Bestattungen von Menschen, die keine Verwandten haben, die sie bestatten wollen. Das heißt nicht, dass sie keine Verwandten haben, aber es gibt niemanden, der sie bestatten will. Das betrifft viel häufiger Männer als Frauen - meist sind das Männer nach Scheidungen, wodurch die Beziehung zu den Kindern zerrüttet ist. Dieses Problem ist völlig unsichtbar.

Welche Rolle spielt das Altern für die Einsamkeit?

Ist man alt und krank, wird es immer schwieriger, soziale Kontakte aufrecht zu erhalten oder neue zu knüpfen. Bei jungen Menschen wiederum spielt eine Sache mit, die ich romantische Vereinsamung nenne: Enttäuschte Liebesbeziehungen führen zu sehr starken Einsamkeitsgefühlen. Diese Menschen haben zwar Freunde, aber das Fehlen der Liebesbeziehung wiegt schwer.

Psychiater Manfred Spitzer stellt in seinem Buch „Einsamkeit, die unerkannte Krankheit“ die Hypothese auf, soziale Medien machen gerade junge Menschen einsam. Unterschreiben Sie das?

Ich kann diese Hypothese nachvollziehen, aber ich glaube nicht, dass sie gut durch Studien belegt ist. Es gibt ja auch die andere These, dass soziale Medien es erleichtern, sich mit Freunden zu koordinieren, Treffen auszumachen. Denn eines der Probleme bei Vereinsamung ist ja das Zerbrechen sozialer Kontexte - man ist nicht mehr in der Lage, Beziehungen zu pflegen. Auf der anderen Seite gibt es die Gegenthese: In den Netzwerken ist man konstant der Zumutung ausgesetzt, dass andere Menschen erfolgreich sozial leben und das herzeigen. Das führt zum Druck, ein ebenso erfolgreiches soziales Leben zu haben - die Partys müssen gut sein, der Urlaub schön. Das kann dazu führen, dass das eigene Leben im Vergleich schlechter wirkt. Das kann das Gefühl von Einsamkeit begründen - gut wissenschaftlich belegt ist aber keine dieser Thesen.

Kann Einsamkeit krank machen und wenn ja, wie?

Es gibt viele Studien, die zeigen: Einsamkeit und Gesundheit hängen zusammen. Aber der kausale Zusammenhang ist nicht eindeutig geklärt. Denn: Schlechte Gesundheit verstärkt einerseits die Vereinsamung - wer einsam ist, vernachlässigt sich andererseits selbst und kümmert sich weniger um seine Gesundheit. Zu analysieren, was Ursache und was Wirkung ist, ist schwierig.

Gibt es einen Weg aus der Einsamkeit?

Es gibt verschiedene Wege, wie Menschen in die Einsamkeit rutschen, einen nenne ich den Bildungsroman: In den Lehrjahren wechselt man Schule oder Stadt und ist dann stark sozial isoliert. Doch meist sind diese Phasen zeitlich begrenzt. Ein Problem bei der Vereinsamung ist, wenn Menschen aus allen sozialen Kontexten herausfallen, in denen sie neue Kontakte schließen könnten. Da muss man sich solche Kontaktgelegenheiten suchen: Vereine oder kirchliche Strukturen können da hilfreich sein.